Moerderische Fracht
Strand entlang Richtung Duhner Rettungsstation. Ich betrachtete Elena von der Seite, bewunderte ihr Profil und sah, wie ihre übermütige Fröhlichkeit verschwand.
»Was ist los?«
Sie schluckte und hatte offensichtlich Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.
»Ich muss dauernd an Jewgeni denken. Hast du Geschwister?«
»Nein.«
»Jew ist acht Jahre jünger als ich. Seit er auf der Welt ist, habe ich auf ihn aufgepasst. Meine Mutter würde das niemals zugeben, aber im Grunde habe ich ihn großgezogen, was schwierig genug war. Er war intelligent, sehr charmant und gleichzeitig faul und extrem aufsässig. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Die ganze Schulzeit war eine einzige Katastrophe. Unsere Eltern waren damals mehr in der Poliklinik als zu Hause, in meiner Erinnerung haben sie rund um die Uhr gearbeitet, und alles blieb an mir hängen. Sie waren maßlos enttäuscht, dass ich trotz exzellenter Noten kein Interesse an einem Medizinstudium hatte, aber als Jewgeni ihnen mit siebzehn ganz nebenbei mitteilte, er wolle zur Handelsmarine, war der Teufel los. Mein Vater hat sich in seinem Zimmer mit den Waffenschränken eingeschlossen, und ich habe wirklich gedacht, er tut sich etwas an. Aber Egomanen von dem Kaliber bringen sich nicht um.«
»Oh, manche schon.«
Elena blinzelte irritiert, sprach aber weiter.
»Jedenfalls hat er über drei Jahre nicht mit Jew gesprochen. Als er ihn schließlich angerufen hat, war es nur, um ihn zu überreden, ein Kapitänspatent zu erwerben. Doch mein Bruder wollte keine Karriere machen. Er wollte einfach nur zur See fahren, sich betrinken, wenn ihm danach war, und mit möglichst vielen Frauen schlafen. Und damit war die Versöhnung auch schon wieder vorbei.«
»Und wie ist das Verhältnis jetzt?«
»Bei mir geht es. Meine Eltern waren glücklich, als ich Leonid heiratete. Sie mochten ihn vom ersten Augenblick an, und als er starb, haben sie mir sehr geholfen, überhaupt einigermaßen weiterzuleben. Ich bin ihnen dankbar und gleichzeitig wütend auf sie, weil sie Jewgeni nicht so akzeptieren können, wie er ist.«
»Und du hast keine Ahnung, wo sich die Ulan im Moment befindet?«
»Ich weiß, dass sie am 5. September in Primorsk ausgelaufen ist. Richtung Skandinavien, aber ich weiß nicht, wie schnell sie ist, ob sie irgendwelche Zwischenstopps einlegt und wann sie wo sein wird.«
»Grygoriew hat gesagt, alle russischen Frachtschiffe und Tanker in der Ost- und Nordsee hätten eine Terrorwarnung erhalten. Also auch die Ulan.«
»Mag sein, aber denk daran, was Monk heute Mittag erklärt hat. Angesichts der wirtschaftlichen Zwänge und der dürftigen Beweislage wird kein einziger Kapitän den Kurs ändern!«
Wir gingen schweigend nebeneinanderher. Elena hatte recht. Es gab keine wirklichen Beweise. Chasimikow und Wassily Jedmajew in Grosny waren tot, der tschetschenische Killer war untergetaucht, und wir hatten letztendlich nicht einmal dafür, dass er wirklich Tschetschene war, einen Beweis. Das Tankergeschäft war knallhart, jede Stunde Verspätung im Zielhafen verursachte erhebliche Kosten. Wegen eines Schmierzettels und eines vagen Gerüchtes würde morgen keine einzige Tankerpassage durch die Kadetrinne verschoben werden.
»Ole Petersen könnte uns helfen«, sagte ich, »zumindest festzustellen, wo sich die Ulan genau befindet. Er genießt großes Ansehen im Maritimen Lagezentrum. Ich bin sicher, dass die Experten im Point of Contact – Meldepflicht hin oder her – die Position und den Kurs der Ulan ohne Probleme herausbekommen, wenn Petersen sie darum bittet. Ich werde gleich morgen mit ihm reden. Er hilft uns bestimmt, vielleicht besorgt er uns ein Satellitentelefon, dann kannst mit Jewgeni sprechen.«
Elena blieb stehen, legte eine Hand auf meinen Arm und lächelte zaghaft.
»Spasibo«, sagte sie. »Lass uns zurückgehen. Mir ist kalt.«
Dreiundzwanzig
I
rgendwann nach Mitternacht kam sie zu mir. Wir hatten uns nach dem Abendspaziergang an Meiners’ Weinregal bedient und tatsächlich noch Schach gespielt. Elena hatte mich zweimal gnadenlos vom Brett gefegt, und danach war ich todmüde ins Bett gefallen. Als später die Klinke mit einem lauten Knirschen heruntergedrückt wurde, fuhr ich hoch und starrte erschrocken zur Tür.
Elena stand ein wenig unschlüssig im hellen Mondlicht, das durch die Jalousien sickerte, und kam langsam näher. Sie trug einen Kimono aus weißer Seide, in japanisch anmutendem Kontrast zu ihrem hochgesteckten, rabenschwarzen
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