Moerderische Fracht
bringe das Frühstück mit. Kaffee ist noch da. Elena.
Ich holte tief Luft und pfiff erleichtert durch die Zähne. Mir war etwas schwindelig. Elena hatte eine schöne, schwungvolle Handschrift mit eleganten Bögen. Helens Schrift war anders gewesen. Steil und akkurat. Die Schrift eines Menschen, der sich beherrschen kann und die Dinge genau nimmt. Sie wäre bei Grygoriew nicht aus der Haut gefahren. Aber sie war ja auch nicht in der Sowjetunion aufgewachsen. Was soll die bescheuerte Vergleicherei, dachte ich mürrisch. Ich ging unter die Dusche, zog mich an und deckte den Frühstückstisch, während ich darüber nachdachte, wie ich Elena dazu überreden konnte, zu mir nach München zu ziehen. Meine Wohnung war groß genug, aber würde sie den alten Sergej allein in Ventspils zurücklassen? Sicher nicht, doch sie würde ihn auch nicht in ein deutsches Pflegeheim geben, was ich mir im Übrigen sowieso nicht leisten konnte. Was dann? Egal, wir würden eine Lösung finden. Wo stand bloß der verdammte Kaffee? Ich fand ihn in einem Wandschränkchen, gut getarnt hinter einer Packung Frühstücksflocken, und während ich den ächzenden Geräuschen der alten Kaffeemaschine lauschte, dachte ich an Elenas aufregende Stimme an meinem Ohr. Die Prawda hatte recht. Morgen würde es besser werden. War ich zu alt, um noch Russisch zu lernen? Keine Ahnung, ich würde es jedenfalls versuchen. Und wir würden uns zusammen Russland ansehen. Was hatte Elena gesagt? Lettland ist sehr schön, Russland jedoch ist fantastisch – ich hatte dabei an etwas gedacht, was ich immer schon machen wollte. Elena wusste es noch nicht, aber wir würden einen Teil der Strecke mit der Transsibirischen Eisenbahn zurücklegen …
Ich war so intensiv mit dem Ausmalen meines kleinen Tagtraumes beschäftigt, dass ich das leise Klingeln an der Tür beinahe überhört hätte. Der Volksmund behauptet, Liebe mache blind, aber vor allem macht sie dumm. Als ich mit drei großen Schritten zur Haustür sprintete und sie schwungvoll öffnete, war ich im ersten Augenblick nur maßlos enttäuscht, nicht Elena vor mir zu haben. Ansonsten fiel mir nichts auf. Vor mir stand ein großer Mann in einem blauen Monteur-Overall. Er hatte sehr kurz geschnittenes Haar, ein kantiges, glatt rasiertes Gesicht und einen Werkzeugkoffer in der linken Hand. In der rechten hielt er einen unförmigen, knapp zwanzig Zentimeter langen Gegenstand, der mir merkwürdig bekannt vorkam.
»Guten Morgen«, sagte er mit einem starken flämischen Akzent, »Elektrizitätswerke!«
Ich zuckte zurück, aber natürlich war es zu spät. Der Mann trat einen Schritt auf mich zu und berührte mich mit dem Ding in seiner Hand an der Schulter. Ich hörte ein kurzes, trockenes Knacken, als ob ein Zweig zerbrach, und dann jagte der Stromstoß einen unbeschreiblichen Schmerz durch meinen Körper, paralysierte meine Muskulatur und ließ den Fußboden auf mich zurasen. Ein Krampf in den Kiefergelenken verwandelte den Schrei in meiner Kehle in ein schmerzverzerrtes Gurgeln, und ich spürte, wie meine Zahnfüllungen vibrierten. Dann schlug ich auf und tauchte hinab in die Dunkelheit.
Fünfundzwanzig
A
ls ich zu mir kam, war ich blind. Und ich wurde herumgeschüttelt. Nein, nicht geschüttelt, mein geschundener Körper wurde auf einer horizontalen Fläche hin und her geworfen wie Nuggets im Sieb eines Goldgräbers. Mir war entsetzlich übel, mein Mund war zugeklebt, und ich bekam schlecht Luft durch die Nase, weil über meinen Kopf eine Art Kapuze gestülpt war, durch die ich auch so gut wie nichts sehen konnte. Meine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden und meine Füße gefesselt. Plötzlich realisierte ich das Motorengeräusch und versuchte, mich auf meine Umgebung zu konzentrieren. Ich war offenbar auf der Ladefläche eines Autos, das relativ schnell auf einer ziemlich unebenen Straße unterwegs war und mich bei jeder Bodenwelle oder scharf genommenen Kurve hin und her schleuderte. Schließlich bog der Fahrer auf eine besser asphaltierte Straße ab. Ich lag still in Embryohaltung da und lauschte dem Geräusch des jetzt rasch beschleunigenden Wagens.
Die Muskulatur meiner gesamten rechten Körperhälfte war verkrampft und tat höllisch weh. Ich konnte mich aus eigener Kraft nicht bewegen, aber immerhin schienen mein Herz und mein Gehirn den Elektroschocker einigermaßen heil überstanden zu haben. Zumindest das Gedächtnis war intakt genug, um mich an meine bodenlose Dummheit, die mich in diese Lage
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