Moerderische Kuesse
viel Umfassenderes daraus entwickelt als ein privater Rachefeldzug gegen die Nervis, etwas viel Bedeutsameres. Nun musste sie zu Ende bringen, was Averill und Tina begonnen hatten, nun musste sie das Vermächtnis eines jungen Mädchens erfüllen, das auf dem Scheitelpunkt zwischen Kindheit und Pubertät ermordet worden war.
Weil Lilys Lebenslauf eine derart bizarre Wendung genommen hatte, als sie achtzehn gewesen war, hatte sie immer gehofft, dass Zia ein normales, glückliches Leben vergönnt sein möge: mit einem Mann und Kindern, in Einklang mit den meisten Menschen auf dieser Welt. Oft hatten die Menschen, die mit im Fluss schwammen und in der Menge untertauchen konnten, gar keine Ahnung, wie gut sie es hatten.
Sie gehörten dazu. Sie hatte sich auch für Zia gewünscht, dass sie eines Tages dazugehören würde, dass sie all das bekam, was Lily selbst nie besessen hatte oder aufgeben musste.
Was für ein erstaunliches Kind Zia gewesen war! Als hätte sie irgendwie geahnt, dass sie nicht lange zu leben hatte, hatte sie ihr Leben bis zur Neige ausgekostet. Für alles hatte sie sich begeistern können, an allem hatte sie sich erfreut. Und sie war eine echte Plapperliese gewesen, so als musste sie möglichst schnell alles sagen, was sie zu sagen hatte. Oft hatte sie so schnell geschnattert, dass sie ihr lachend ins Wort gefallen waren und sie ermahnt hatten, das Luftholen nicht zu vergessen.
Lilys Feldzug war so gut wie zu Ende. Sie brachte einen Sprengsatz an der Wand hinter den Aktenschränken an, in denen Dr. Giordano die Berichte über seine Experimente und deren Ergebnisse lagerte, und steckte anschließend einen Zünder in den Semtex‐Brocken. Bald wäre hier alles nur noch Asche.
Fast geschafft, dachte sie, während sie den Sprengstoff in dem Büro anbrachte, wo alle Computerdisketten und Datenträger lagerten. Eine kleine Ladung unter jedem Computer und eine größere unter dem Schrank mit den CDs und Bändern. Alles musste verschwinden. Nichts durfte von Dr. Giordanos Forschungen übrig bleiben.
Swain nahm sich währenddessen das Büro des Doktors und die zwei Labore vor, in denen das Virus gezüchtet wurde.
Leider war das auch der Bereich, in dem an dem Impfstoff geforscht wurde.
Lily hätte es lieber gesehen, wenn sie die Ergebnisse aus der Impfstoffforschung
hätten
retten
können,
denn
möglicherweise würden sie schon in einem Jahr dringend gebraucht, aber das war nicht möglich. Diesen Bereich von Dr.
Giordanos Arbeiten konnten sie unmöglich ausnehmen. Sie hoffte nur, dass irgendwo auf der Welt ein anderes Labor an demselben Projekt forschte und bei Ausbruch einer Epidemie dieselben Ergebnisse vorweisen konnte.
Sie ging über eine lange, steile Treppe in den Keller hinunter, wo sie am Fuß der tragenden Wände die größten Sprengladungen anbrachte, die garantieren sollten, dass auch wirklich das ganze Gebäude einstürzen würde. Als sie wieder ins Erdgeschoss hochstieg, war sie außer Atem, und ihr Herz raste.
Sie konnte nicht sagen, ob ihre Erholung weitere Fortschritte machte. Eines stand außer Zweifel: Bei jeder kleinen Anstrengung geriet sie außer Puste. Ob ihre Kurzatmigkeit immer schlimmer wurde oder gleich blieb, konnte sie nicht beurteilen, aber sie musste der Wahrheit ins Gesicht sehen: So bald wie möglich würde sie einen Herzspezialisten aufsuchen und die beschädigte Herzklappe operieren lassen müssen.
Was sie nach dem heutigen Tag alles tun würde, hing entscheidend von Rodrigo Nervi ab. Sie würde aus Frankreich fliehen müssen; das stand außer Frage. Aus Europa, um genau zu sein. Swain hatte nie von der Zeit danach gesprochen und sie ebenso wenig. Erst musste sich herausstellen, ob es überhaupt eine solche Zeit gab. Sie versuchte, sich eine Zukunft ohne ihn vorzustellen, aber sie konnte es nicht. Immer wenn sie sich irgendwo sah, sah sie automatisch Swain an ihrer Seite.
Wo könnte er ungefährdet untertauchen? In Südamerika keinesfalls, und beide konnten kaum gefahrlos in die Vereinigten Staaten heimkehren. Damit blieben Mexiko oder Kanada. Dort wären sie wenigstens nahe der Heimat. Jamaika war eine Möglichkeit. Swain hasste die Kälte, folglich würde er sich kaum für Kanada entscheiden, was ihre erste Wahl gewesen wäre. Vielleicht konnten sie die Sommer in Kanada verbringen und im Süden überwintern.
Ein gehetzt aussehender Mann im Laborkittel eilte mit einem dicken Notizbuch beladen und einem knappen Nicken an ihr vorbei. Sie kam an einem Fenster
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