Moerderische Kuesse
losen Haare, die sich zwischen den Borsten verfangen hatten, in die Toilette geworfen.
Ihr war natürlich bewusst, dass ihr Dr. Giordano mehrere Blutproben abgenommen hatte, die sie nicht mehr vernichten konnte, aber die DNA‐Analyse wurde noch nicht so oft zur Identifikation eingesetzt wie die Fingerabdrücke; noch gab es dafür kaum Datenbanken. Ihre Fingerabdrücke waren in der Zentrale in Langley, aber nirgendwo sonst gespeichert; abgesehen von einem Mordanschlag hier und da war sie eine mustergültige Staatsbürgerin gewesen. Und die schönsten Fingerabdrücke waren nutzlos, wenn es keine Akte gab, mit der sie abgeglichen werden konnten. Ein einmaliger Ausrutscher blieb folgenlos. Zwei reichten aus, um jemanden zu identifizieren. Darum bemühte sie sich nach Kräften, nicht einmal einen Ausgangspunkt zu bieten.
Wahrscheinlich würde es Dr. Giordano extrem merkwürdig finden, wenn sie ihn anrief und bat, ihr alle Blutproben zurückzuschicken. Wären sie in Kalifornien gewesen, hätte sie behaupten können, sie gehöre einer wenig bekannten Sekte an und brauchte ihr Blut, um dereinst ins Himmelreich aufzusteigen, oder sie sei eine Vampirin, und man hätte ihr mit ziemlicher Sicherheit alle Blutproben ausgehändigt.
Bei dem makaberen Gedanken verzog sich ihr Mund zu einem leeren Lächeln, und sie wünschte sich, sie könnte ihn mit Zia teilen, die einen ausgeprägten Sinn fürs Absurde gehabt hatte. Mit Averill und Tina und vor allem mit Zia hatte sie entspannen und ab und zu herumalbern können wie ein ganz normaler Mensch. Für jemanden in ihrer Branche war jede Entspannung ein Luxus, den man ausschließlich in der Gesellschaft von Berufskollegen fand.
Das stille Lächeln verblasste. Die drei hatten ein so riesiges Loch in ihrem Leben hinterlassen, dass es wohl kaum je wieder gefüllt werden konnte. Im Lauf der Jahre hatte Lily ihre Zuneigung einem immer kleiner werdenden Kreis Menschen geschenkt, bis schließlich nur noch fünf Personen übrig geblieben waren: ihre Mutter und Schwester – die sie nicht mehr zu besuchen wagte, weil sie Angst hatte, die Gefahren, die ihr Job mit sich brachte, in deren Heim einzuschleppen wie eine ansteckende Krankheit – und drei Freunde.
Averill war anfangs ihr Geliebter gewesen; für kurze Zeit hatten sie gemeinsam die Einsamkeit abgewehrt. Dann hatten sich ihre Wege getrennt, und sie hatte bei einem Einsatz, der zwei Agentinnen erforderte, Tina kennen gelernt. Nie zuvor hatte sie so schnell einen Draht zu jemandem gefunden wie zu Tina, fast als wären sie Zwillinge, die sich zum ersten Mal begegneten. Sie brauchten einander nur anzusehen, um zu wissen, dass sie zur gleichen Zeit das Gleiche dachten. Sie hatten den gleichen Humor, und sie hatten die gleichen albernen Träume: Dass sie eines Tages, wenn sie mit dieser Art von Arbeit abgeschlossen hätten, heiraten, ein eigenes Unternehmen gründen und vielleicht sogar ein, zwei Kinder bekommen würden – wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Dieser Tag war für Tina gekommen, als sich ihr Weg und Averills gekreuzt hatten wie die zweier Heliumballons in einem geschlossenen Zimmer. Lily und Tina hatten zwar vieles gemeinsam, aber die Chemie gehörte nicht dazu; Averill brauchte nur einen einzigen Blick auf die schlanke, brünette Tina zu werfen und war bis über beide Ohren verliebt, und seine Gefühle wurden augenblicklich erwidert. Anfangs hatten sie oft zu dritt herumgehangen und dabei meistens mächtig einen draufgemacht. Sie waren jung und gesund und gut im Geschäft; zugegeben, ihre mörderische Profession gab ihnen das Gefühl, hart und unverwundbar zu sein. Sie waren zu professionell, als dass sie mit ihrer Arbeit geprahlt hätten, aber jung genug, um den Kick zu spüren.
Dann wurde Tina angeschossen, und die Wirklichkeit meldete sich mit Macht zurück. Der Job war lebensgefährlich.
Der Rausch war verflogen. Ihre Sterblichkeit stand ihnen wie ein Menetekel vor Augen.
Averill und Tina reagierten darauf, indem sie heirateten, sobald Tina sich so weit erholt hatte, um ohne Krücke zum Altar schreiten zu können. Sie zogen zusammen, erst in eine Wohnung in der Pariser Innenstadt und später in ein kleines Häuschen in einem Vorort, und übernahmen immer weniger Einsätze.
Lily besuchte die beiden, so oft sie konnte, und bei einem dieser Besuche brachte sie Zia mit. Sie hatte das Baby, allein gelassen und halb verhungert, in Kroatien gefunden, kurz nachdem sich das Land vom damaligen Jugoslawien
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