Moerderische Kuesse
losgesagt hatte und die serbische Armee am Anfang eines erbitterten Krieges tief ins Gebiet des neuen Staates eingefallen war.
Niemand, den Lily gefragt hatte, schien ihr etwas über die Mutter des Babys sagen zu können oder zu wollen, und niemand schien an dem Schicksal des kleinen Kindes Anteil zu nehmen. Entweder musste Lily das Baby mitnehmen, oder es würde elendig verenden.
Schon nach zwei Tagen liebte sie die Kleine so innig, als hätte sie das Kind selbst zur Welt gebracht. Es war nicht gerade einfach gewesen, Kroatien zu verlassen, vor allem, da sie ein Baby aus dem Land bringen musste. Sie musste Milch und Windeln und Decken auftreiben. Über irgendwelche Kleidung hatte sie sich damals keine Gedanken gemacht, solange sie etwas, irgendwas fand, womit sie das Kind satt und trocken und warm halten konnte. Sie taufte die Kleine Zia, einfach weil ihr der Name gefiel.
Als Nächstes stand sie vor dem Problem, Papiere für Zia zu beschaffen, einen brauchbaren Fälscher aufzutreiben und das Mädchen über die italienische Grenze zu schmuggeln.
Nachdem sie Kroatien erst hinter sich gelassen hatte, wurde es einfacher, Zia zu versorgen, denn in Italien gab es überall alles zu kaufen. Trotzdem war es nie wirklich einfach, für Zia zu sorgen. Das Baby zappelte und versteifte sich, sobald Lily es berührte, und spie nach dem Trinken fast die ganze Milch wieder aus. Lily beschloss, vorübergehend in Italien zu bleiben, um das kleine Wesen, das in seinem kurzen Leben praktisch keine Fixpunkte kennen gelernt hatte, nicht noch weiter herumzuzerren.
Lily nahm an, dass Zia erst ein paar Wochen alt gewesen war, als sie sie gefunden hatte, obwohl es durchaus möglich war, dass das Baby, halb verhungert und vernachlässigt, wie es war, im Wachstum zurückgeblieben war. Doch schon nach den ersten drei Monaten in Italien hatte die kleine Zia genug Gewicht angesetzt, um Grübchen in den speckigen kleinen Händchen und Füßchen zu haben und unablässig zu sabbern, weil die ersten Zähnchen durchbrachen, und sie beobachtete Lily mit weit aufgerissenem Mund und großen Augen, aus denen jene reine Freude sprach, die nur die Allerkleinsten ausstrahlen können, ohne dass sie dabei wie Vollidioten aussehen.
Schließlich brachte sie Zia nach Frankreich und nahm sie mit zu Onkel Averill und Tante Tina.
Der Wechsel der Pflegefamilie vollzog sich ganz allmählich.
Immer wenn Lily im Einsatz war, ließ sie Zia bei den beiden; Averill und Tina liebten das Baby, und Zia fühlte sich bei ihnen wohl, nur Lily brach jedes Mal das Herz, wenn sie die Kleine allein lassen musste. Sie lebte dann immer nur für jenen Augenblick, an dem sie heimkam und Zia wiedersah. Dann leuchtete das kleine Gesicht auf, und Zia quietschte vor Freude; Lily war überzeugt, nie ein schöneres Geräusch gehört zu haben.
Doch dann geschah das Unausweichliche: Zia wurde größer.
Sie musste in die Schule. Lily war mitunter wochenlang unterwegs. Logischerweise verbrachte Zia immer mehr Zeit mit Averill und Tina, bis schließlich allen dreien klar war, dass es an der Zeit war, neue Papiere zu fälschen, in denen die beiden als Zias Eltern aufgeführt wurden.
Noch vor Zias viertem Geburtstag waren Averill und Tina zu Daddy und Mom geworden, und Lily war Tante Lil.
Dreizehn Jahre lang war Zia das Zentrum von Lilys Gefühlswelt gewesen, und nun war sie tot.
Was, in aller Welt, hatte Averill und Tina dazu bewogen, wieder in ein Spiel einzusteigen, aus dem sie sich längst verabschiedet hatten? Waren sie in Geldnot geraten? Bestimmt war ihnen bewusst gewesen, dass sie Lily nur hätten fragen müssen, und schon hätte sie ihren Freunden all ihre Euros und Dollars gegeben – die, nach neunzehn Jahren äußerst lukrativer Arbeit, auf einem satt gefüllten Schweizer Bankkonto lagen.
Aber irgendwas hatte das Paar wieder zurück aufs Spielfeld gelockt, und diesmal hatten sie mit ihrem Leben bezahlt. Und mit Zias.
Inzwischen hatte Lily ihre Ersparnisse größtenteils aufgebraucht, um das Gift zu beschaffen und um ihre Falle zu präparieren. Gute Papiere kosteten gutes Geld, und je besser sie sein sollten, desto mehr kosteten sie. Sie hatte die Wohnung anmieten und sich einen Job besorgen müssen – denn es hätte bestimmt Verdacht erregt, wenn sie keinen gehabt hätte –, und sie hatte sich in Salvatore Nervis Nähe vorarbeiten müssen, in der Hoffnung, dass er den Köder schluckte. Was keineswegs sicher gewesen war. Wenn sie sich richtig herausputzte, konnte sie
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