Moerderische Kuesse
sie sich mehr als nur einmal im Leben«, wandte Vincenzo ein. »Was ich mit diesem Virus gemacht habe, kann ich jederzeit wieder tun.«
»Aber werden die Umstände ebenso günstig sein? Im Moment ist alles perfekt. Wenn alles gut geht, wird niemand misstrauisch werden, und man wird uns – im Gegenteil – als Retter feiern. Wir sind in der idealen Position, genau jetzt zuzuschlagen. Nachdem die WHO selbst unsere Forschungen finanziert, würde sich niemand wundern, dass wir ein Serum entwickelt haben. Aber wenn wir allzu oft zum Brunnen gehen, mein Freund, kann der Krug brechen, und man wird uns Fragen stellen, die wir nur ungern beantworten möchten. Es kann nicht jedes Jahr eine Seuche geben, nicht einmal alle fünf Jahre, ohne dass jemand Verdacht schöpft.«
»Die Welt verändert sich«, wandte Vincenzo ein. »Die Menschen leben enger als je zuvor mit ihren Tieren zusammen.«
»Und keine Krankheit wurde je so gründlich erforscht wie die Grippe. Jede Variante wird unter tausenden von Mikroskopen untersucht. Sie wissen das am besten, schließlich sind Sie Arzt.« Die Grippe war gefährlicher, als die meisten Menschen glaubten; bei der Epidemie von 1918 waren mehr Menschen gestorben als während der vierjährigen großen Pest, die Europa im Mittelalter heimgesucht hatte. Schätzungsweise waren der Grippewelle von 1918 vierzig bis fünfzig Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Selbst in ganz normalen Jahren tötete die Grippe tausende oder gar hunderttausende. Jedes Jahr wurde Serum für zweihundertfünfzig Millionen Impfungen produziert, und das war nur ein Bruchteil dessen, was man während einer großen Epidemie brauchen würde.
In den Vereinigten‐Staaten, in Australien und in England arbeiteten Forscher fieberhaft daran, genau jenes Serum zu entwickeln, das den Virologen zufolge am wahrscheinlichsten gegen den nächsten aktiven Virenstamm helfen würde. Große Seuchen wurden allerdings immer von Virenmutationen ausgelöst, die niemand vorhergesehen hatte, weshalb alle verfügbaren Impfstoffe versagten. Die ganze Grippevorsorge war wie ein riesiges Quiz, bei dem Millionen Menschenleben auf dem Spiel standen. Meistens lagen die Grippepropheten richtig. Aber etwa alle dreißig Jahre mutierte ein Virus und erwischte sie auf dem falschen Fuß. Seit der großen Hongkong‐Grippewelle 1968/69 waren fünfunddreißig Jahre vergangen; die nächste große Seuche war überfällig, und die Uhr lief gnadenlos ab.
Salvatore hatte seinen ganzen Einfluss und alle Kontakte spielen lassen, um jene Fördertöpfe der WHO anzuzapfen, aus denen die Entwicklung eines Serums gegen die Vogelgrippe finanziert wurde. Die ausgewählten Labore, die sonst die Grippeseren entwickelten, konzentrierten sich auf die üblichen Virenstämme, nicht auf die Vogelgrippe, folglich wären ihre Impfstoffe nutzlos. Dank der Forschungsmittel und Vincenzos Forschungen hätten die Nervi‐Labore als einzige das Know‐how, ein Serum gegen die Vogelgrippe zu produzieren und – was der Knackpunkt an der ganzen Sache war – das Mittel in riesigen Mengen versandfertig zu verpacken. Sobald überall auf der Welt Millionen Menschen sterben würden wie die Fliegen, würde jeder Preis für einen Impfstoff gegen diese neue Form der Grippe gezahlt. Die Profite, die sich in ein paar kurzen Monaten machen ließen, waren einfach unvorstellbar.
Natürlich konnten sie keinesfalls genug Serum produzieren, um alle Menschen zu schützen, aber die Weltbevölkerung konnte eine gewisse Ausdünnung vertragen, fand Rodrigo.
Die Explosion im August hatte das ganze Projekt gefährdet, darum hatte Salvatore alles unternommen, um den Schaden einzugrenzen. Die Verursacher der Explosion waren elimiert worden, und Rodrigo hatte ein neues Sicherheitssystem installiert, nachdem das alte ganz offensichtlich große Lücken gehabt hatte. Aber trotz aller Anstrengungen hatte Rodrigo nicht herausfinden können, wer das Pärchen angeworben hatte, das ihr Labor in die Luft gejagt hatte. Ein Konkurrent aus der Pharmaforschung? Es gab keine direkte Konkurrenz, weil kein anderes Labor an einem ähnlichen Projekt forschte. Ein Konkurrent ganz allgemein? Der hätte deutlich größere Ziele aussuchen können, die aber alle unbeschädigt geblieben waren.
Erst die Explosion, und drei Monate später der Mord an Salvatore. Konnte das eine mit dem anderen zusammenhängen?
Im Lauf der Jahre waren schon viele Anschläge auf Salvatore verübt worden, daher war es durchaus möglich, dass die beiden
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