Moerderische Kuesse
sehe nicht mehr gut, und ich höre auch nicht mehr gut. Und ich ziehe nachts die Vorhänge zu. Wie hätte ich etwas sehen sollen?«
»Und vor dieser Nacht? Irgendwann in dieser Woche?«
»Auch das habe ich schon der Polizei erzählt.« Sie sah Lily böse an.
»Aber die hat nichts unternommen.«
»Natürlich hat die nichts unternommen! Völlig untauglich, das ganze Pack!« Mit einem einzigen angewiderten Handwedeln urteilte sie eine ganze Armee von fleißigen Beamten ab, die Tag für Tag ihr Bestes gaben.
»Haben Sie irgendjemanden bemerkt, den Sie nicht kannten?«, wiederholte Lily ihre Frage geduldig.
»Nur einen einzigen jungen Mann. Er sah sehr gut aus, beinahe wie ein Filmstar. Er kam eines Tages zu Besuch und blieb mehrere Stunden. Ich hatte ihn noch nie gesehen.«
Lilys Puls beschleunigte spürbar. »Können Sie ihn beschreiben? Bitte, Madame Bonnet.«
Die alte Dame sah sie wieder böse an, grummelte mehrere wenig schmeichelhafte Kommentare wie »inkompetente Idioten« oder »Haufen von Trotteln«, um dann zu erklären:
»Ich habe Ihnen doch gesagt, er sah sehr gut aus. Groß, schlank, dunkelhaarig. Sehr elegant gekleidet. Er kam mit dem Taxi und fuhr mit einem anderen Taxi wieder ab. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Wie alt würden Sie ihn schätzen?«
»Jung natürlich! Für mich ist jeder unter fünfzig jung. Und jetzt lassen Sie mich mit diesen dummen Fragen in Frieden.«
Damit trat sie einen Schritt zurück und knallte Lily die Tür vor der Nase zu.
Lily atmete tief durch. Ein junger, gut aussehender, dunkelhaariger Mann. Gut gekleidet. In Paris, wo an gut aussehenden jungen Männern kein Mangel herrschte, gab es tausende, auf die diese Beschreibung zutraf. Es war ein Anfang, ein erstes Puzzleteilchen, aber als einziger Hinweis taugte es nicht. Sie hatte keine Liste von möglichen Verdächtigen, die sie abarbeiten konnte, sie hatte auch keine Fotos, die sie Mme.
Bonnet zeigen konnte, in der Hoffnung, dass die alte Dame irgendwann sagen würde: »Der da. Der war es.«
Und wie viel wusste sie jetzt wirklich? Vielleicht hatte der gut aussehende junge Mann ihre Freunde angeworben, um etwas im Labor der Nervis hochzujagen, aber vielleicht war es auch nur ein Bekannter gewesen, der auf einen Besuch vorbeigeschaut hatte. Averill und Tina konnten ihren Auftraggeber auch woanders getroffen haben. Sie mussten ihn nicht in ihrem eigenen Haus empfangen. Tatsächlich war das eher unwahrscheinlich.
Sie massierte ihre Stirn. Sie hatte die ganze Sache noch nicht richtig durchdacht, und sie wusste nicht, ob sie sich richtig durchdenken ließ und ob sie auch nur einen Schritt weiterkommen würde, wenn sie erfuhr, warum Averill und Tina den Job angenommen hatten oder worin der Job bestanden hatte. Sie wusste nicht einmal mit Sicherheit, dass es einen Job gegeben hatte, aber das war das einzige Szenario, das überhaupt Sinn ergab. Sie würde einfach ihrem Instinkt folgen müssen. Wenn sie jetzt anfing, an sich zu zweifeln, konnte sie gleich einpacken.
Gedankenversunken trottete sie zum Bahnhof zurück.
10
Georges Blanc glaubte unbedingt an Recht und Gesetz, aber er war zugleich ein pragmatischer Mensch, der es hinnahm, dass es bisweilen Situationen gab, in denen man nur zwischen zwei Übeln abwägen konnte.
Es gefiel ihm ganz und gar nicht, Rodrigo Nervi mit Informationen zu versorgen. Allerdings hatte er eine Familie, die er beschützen musste, und einen erwachsenen Sohn, der erst dieses Jahr sein Studium an der amerikanischen John Hopkins University aufgenommen hatte. Die Studiengebühren an der Johns Hopkins betrugen fast dreißigtausend Dollar pro Jahr; das allein hätte ihn als Vater an den Bettelstab gebracht.
Trotzdem hätte er die Kosten irgendwie geschultert, auch wenn ihn Salvatore Nervi nicht vor über zehn Jahren angesprochen und den genialen Vorschlag gemacht hätte, Georges ein äußerst großzügiges zweites Einkommen zu verschaffen, für das er nichts weiter zu tun brauchte, als gelegentlich ein paar Informationen weiterzuleiten und sich ab und zu gefällig zu zeigen. Als Georges höflich, aber bestimmt abgelehnt hatte, hatte Salvatore mit eisigem Lächeln eine gruselige Liste von möglichen Missgeschicken rezitiert, die Georgesʹ Familie widerfahren könnten: Sein Haus könnte abbrennen, seine Kinder könnten entführt oder gar verletzt werden. Salvatore erzählte ausführlich, wie ein paar Ganoven in das Haus einer alten Frau eingebrochen waren und sie geblendet hatten, indem sie ihr
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