Moerderische Kuesse
Frau stieß sie von hinten an und sah sie empört an, weil sie so unversehens stehen geblieben war. »Excusez‐moi«, entschuldigte sich Lily und bog ab zu einer kleinen Bank, wo sie alles in Ruhe überdenken konnte.
Verflucht noch mal, es gab so viele Facetten des Spionagehandwerks, die ihr immer noch verschlossen waren; sie war hier ganz entschieden im Nachteil. Es hatte keinen Sinn mehr, Nachforschungen über Swain anzustellen; entweder kam er von der CIA oder eben nicht. Ihr blieb nur die Wahl, mit ihm Kontakt aufzunehmen oder nicht.
Am sichersten war es, ihn nicht anzurufen. Er wusste nicht, wo sie wohnte und welchen Namen sie verwendete. Aber falls er tatsächlich von der CIA kam, dann hatte er irgendwie herausgefunden, dass sie es auf das Labor der Nervis abgesehen hatte, und sich auf die Lauer gelegt, bis sie aufgetaucht war. Entweder sie gab ihren Plan ganz auf, oder er würde sie dort wieder aufspüren.
Was das Laborgelände betraf, so hatte sich die Lage dort entscheidend
verkompliziert.
Offenbar
hatte
Rodrigo
herausgefunden, wer sie wirklich war, und irgendwoher ein Foto von ihr beschafft, sonst hätten diese Hobbyfußballer sie nicht so schnell erkannt. Nach dem kleinen Aufruhr im Park wäre Rodrigo doppelt auf der Hut und würde zweifellos die Sicherheitsmaßnahmen verstärken.
Sie brauchte Hilfe. Allein konnte sie es unmöglich schaffen.
So wie sie es sah, konnte sie entweder abtauchen und Rodrigo Nervi ungestört seinen Geschäften nachgehen lassen, ohne dass sie je herausfinden würde, was Averill und Tina so wichtig gewesen war, dass sie ihr Leben dafür gegeben hatten
– oder sie konnte einfach auf ihr Glück hoffen und Swains Hilfe annehmen.
Sie wollte ihn auf jeden Fall an ihrer Seite haben, erkannte sie wie unter Schock. Er schien so viel Freude am Leben zu haben, und an Freude hatte es ihrem Leben während der letzten langen Monate eindeutig gefehlt. Er hatte sie sogar zum Lachen gebracht. Vielleicht wusste er nicht, wie lange es her war, seit das jemand geschafft hatte, aber sie wusste es nur zu genau. Der winzige Funken an Lebensfreude, den ihre Trauer nicht ausgelöscht hatte, wollte nur zu gern wieder aufglühen.
Sie wollte wieder glücklich sein, und Swain strahlte sein inneres Glück aus wie eine wärmende Sonne. Na schön, dann konnte sie ihn eben nicht überprüfen, aber die stählerne Entschlossenheit, die kurz aufgeblitzt war, als sie ihm im Auto die Waffe abnehmen wollte, gab ihr zusätzlich Sicherheit.
Wenn er sie zum Lachen bringen konnte, wenn sie durch ihn ihre Lebensfreude wiederfinden konnte, wog das allein das Risiko auf, ihn zum Partner zu nehmen.
Außerdem spürte sie nur zu deutlich eine gewisse Anziehungskraft. Dieser Aspekt überraschte sie selbst ein bisschen, aber sie erkannte ihr leise aufflackerndes Interesse als das, was es war, und sie würde es bei jeder Entscheidung berücksichtigen müssen, damit ihr die Gefühle nicht den Verstand trübten. Aber machte es denn einen Unterschied, ob sie sein Hilfsangebot annehmen wollte, weil er sie zum Lachen brachte oder weil sie ihn attraktiv fand? So oder so reagierte sie eher auf emotionale als auf reale Bedürfnisse. Und außerdem glaubte sie nicht, dass sie mit ihm ins Bett fallen würde, nur weil er so gut aussah. Sie hatte nicht viele Geliebte gehabt und mehrmals über Jahre hinweg sexuell enthaltsam gelebt, ohne dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Ihr letzter Liebhaber, Dmitri, hatte sie umzubringen versucht. Das war vor sechs Jahren gewesen, und seither war ihr gegenseitiges Vertrauen wichtiger als alles andere.
Nachdem
sie
keine
Möglichkeit
hatte,
definitiv
herauszufinden, ob Swain für die CIA arbeitete, und ihr ansonsten nur die Alternative blieb, das Weite zu suchen und die Nervis ungestört weitermachen zu lassen, lautete die Vierundsechzigtausend‐Euro‐Frage, ob sie ihn anrufen würde, weil oder obwohl er so süß war und sie zum Lachen brachte.
»Auch egal. Und wenn schon«, murmelte sie vor sich hin.
Sie lachte kurz und zynisch auf, was ihr den erschrockenen Seitenblick eines Passanten eintrug.
Er wohnte im Bristol auf den Champs‐Elysees. Auf eine Eingebung hin ging sie ins nächste Cafe, bestellte eine Tasse Kaffee und bat die Bedienung, eine Nummer im Telefonbuch nachzuschlagen. Sie kritzelte die Nummer des Hotel Bristol auf einen kleinen Zettel, trank ihren Kaffee aus und verschwand.
Sie hätte vom Handy aus anrufen und sich irgendwo mit ihm treffen können, aber
Weitere Kostenlose Bücher