Mörderische Landschaften - Kriminelles aus dem Osten
dieser unbedingt nötigen Information habe ich schon 33 Prozent des mir im Normalfall zustehenden Zeilenkontingents verbraucht. Mit anderen Worten, man will gar nicht wissen, wie es wirklich zuging in jenem Staat, in dem die Tochter des verschwundenen Privatdetektivs, der dem Zeitzer Kinderwagenbabyaustausch und dem Sonneberger Spielzeug-Wismut-Skandal auf der Spur war, zum immerwährenden Schweigen gebracht wurde.
Die Tochter hatte einen Ehemann. Und zwei Stück Kinder. Verschiedengeschlechtlich. Und eine Oma, die die Frau, also die mutmaßliche Witwe des verschwundenen Mannes, jenes in Rede stehenden Privatdetektivs war.
Mit Mann und zwei Kindern und Oma fuhr die Tochter in den Urlaub, um sich von den anstrengenden Recherchen in Sachen ihres Vaters zu erholen. Sie benutzte dazu einen »Trabant«, den ich schon in der sechsten und der 49. Kalenderwoche der Kalender für 2004 bzw. 2007 abgehandelt habe.
Dieser Trabant besaß einen Dachgepäckständer, den ich bisher noch nie als DDR-Produkt kalendarisch erfasst habe. Auf diesem Dachgepäckständer hatte man das Erzeugnis aus der Firma Pouch, ein Schlauchboot, verstaut. Reiseziel war ein Stausee in der ehemaligen Tschechoslowakei, am Fuße der Niederen Tatra gelegen.
Mit diesem Schlauchboot fuhren Vater, Mutter – also Tochter – zwei Stück Kinder und die Oma auf dem Stausee herum und vergnügten sich. Bei diesen Vergnügungen stürzte die Oma ins kalte Wasser. Als man sie glücklich an Land gezogen hatte, schlug sie die Augen auf, meinte, es sei ihr bissel kalt, und dann schlug sie die Augen zu. Für immer.
Die Oma hatte einen Herzschlag erlitten, wie man damals sagte. Einen Herzschlag durfte ich noch nie als Kalenderbild betexten – nicht mal am Rande erwähnen. Am Rande des Sees lag die Oma, mausetot. In der Tschechei, wie man damals sagte, obwohl es auch damals die Slowakei war.
Wer die DDR kennt und sie nicht als »Schöne-Reise-durch-die-DDR« besser machen muss, als sie war, weiß, dass die Bürokratie eine unermessliche war. Im Unterschied zu heute. Wenn man im Ausland verstarb, hatte man Probleme. Nicht allein, weil man dann tot war, sondern vor allem, weil man ein toter DDR-Bürger war. Und ein toter DDR-Bürger außer Landes ist kein guter DDR-Bürger. Ein guter DDR-Bürger stirbt vorschriftsmäßig innerhalb der Landesgrenzen. Wer also in der Tschechei seinen DDR-Geist aufgab, hatte ein Problem.
Die Tochter und deren Mann wickelten das Problem ins Schlauchboot und verstauten beides auf dem Dachgepäckträger. Auf diese Weise gedachten sie, die Oma innerhalb sicherer DDR-Grenzen zu bringen, um sie dort ordnungsgemäß versterben zu lassen.
Doch beim Stopp vor der Grenze, als die letzten Tschechenkronen für Budweiser Bier ausgegeben wurden, während dieser Trink- und Pinkelpause wurde das Schlauchboot der Firma Pouch mitsamt der darinnen befindlichen Oma vom Dachgepäckträger herunter gestohlen. Kackfrech, also unerlaubt entwendet. Vom großen Unbekannten.
Man kam ohne Schlauchboot zwar sicher über die Grenze, aber wie sollte man die nunmehr als DDR-Bürgerin nicht mehr aus dem ausländischen Ferienparadies auftauchende Oma den Organen erklären? An der Grenze verhielten sich die Organe korrekt und scheinbar höflich, obwohl sie vermutlich informiert waren. Die informierten Organe zu Hause aber fragten dringlich nach der Oma und deuteten an, ein Verfahren einzuleiten. Ein verschwundener Privatdetektiv und dessen verschwundene Frau seien exakt zwei Probleme zu viel. Es sei klar, dass die Tochter, die so unverschämt nach ihrem Vater, der das offiziell nicht existierende Gewerbe eines Privatdetektivs betrieben hatte, gefragt hatte, nun auch das Verschwinden von dessen Frau, also der Oma, deren Schlauchbootfahrt offiziell nicht bekannt war, zu verantworten hatte.
Die Tochter war damit zum Schweigen gebracht worden, zumal man ihr vertraulich mitteilte, dass die Oma möglicherweise in Form einer gefüllten Urne die Grenze rechtmäßig überschritten hatte und an einem den Organen bekannten Ort ihre nun wirklich letzte Ruhe gefunden hatte.
Nichts war geklärt. Es gab ein vertauschtes Kind. Es gab eine Mutter, die mit Maßnahme A und B bedacht worden war. Es gab einen von ihr beauftragten Privatdetektiv, der verschwunden war, mitsamt dubioser Wismut-Piko-Eisenbahn-Gelder – und es gab eine verschwundene Oma im Schlauchboot.
Zwar gab es nun niemanden mehr, der versuchte, die wahren Hintergründe des Baby-Austausch-Mordes im
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