Mörderische Landschaften - Kriminelles aus dem Osten
waren, konnten bleiben und wurden mit guten Verträgen in die neuen Angestelltentarife übernommen.
Nun saßen wir da und wunderten uns, wo unser sonst immer pünktlicher Abteilungsleiter blieb.
Dann kam er: ein breiter, großer Mann mit beeindruckendem Bierbauch, dessen Pausbacken im Gesicht rotverschwitzt glühten. Er stapfte mit seinem schweren Körper an die Stirnseite des großen Tisches, an dem wir alle saßen, und begann, ohne uns zu begrüßen, zu reden: »Ja, ich bin Dr. Grand, Grand wie grandios, ha ha.«
Wir waren ahnungslos und in Erwartung unseres Abteilungsleiters nicht zum Spaßen aufgelegt. Das schien den grandiosen Doktor aber wenig zu interessieren. Schnell fuhr er fort: »Ich komme aus Niedersachsen, Beamter im gehobenen Verwaltungsdienst, und bin zu Ihnen im Zuge der Amtshilfe abgeordnet.«
In einer schier endlosen Abfolge zählte er seine erworbenen Amtstitel und Zertifikate auf dem Karriereweg des öffentlichen Dienstes auf und sprach von seinen Verdiensten um die Weiterentwicklung der Verwaltung seines Bundeslandes, die er nun auch gern und nahezu selbstlos unserem Bundesland und uns zur Verfügung stellen würde. Gewisper und Gemurmel durchzogen den Raum. Ich guckte verstohlen auf meine Armbanduhr. Er hatte eine halbe Stunde geredet, und noch immer war unser Abteilungsleiter nicht erschienen.
»Sie wissen ja«, dabei ließ er seine Stimme in einen sonoren Bass fallen, »Gemeinnutz geht vor Eigennutz!«
Neben mir saß Anke Schmitt, diplomierte Kulturwissenschaftlerin. Wir teilten uns ein Büro, und ich hatte immer viel Vergnügen, wenn sie in kurzen, zugespitzten Bemerkungen die Dinge auf den Punkt brachte und nebenher über deren hintergründige Welten erzählte. Sie ließ sich die Steilvorlage des Dr. Grand nicht nehmen und rief erheitert: »Ja, ja, Montesquieu, was Rednern an Tiefe fehlt, ersetzen sie durch Länge.«
Dr. Grand guckte verblüfft meine Kollegin an, fasste sich schnell und fragte sie nach ihrem Namen.
»Anke Schmitt«, antwortete sie freundlich und sprach weiter: »Bevor Sie sich bei der Abschaffung unseres Systems neue Verdienste erwerben, noch eine Anregung Montesquieus, die er sich schon vor 300 Jahren einfallen ließ, ich zitiere sinngemäß«, sie hob feierlich ihre Stimme: »Verfassungsregeln, Gesetze und Vorschriften, Sitten und Gewohnheiten sind ineinander verwoben und beeinflussen und ergänzen sich gegenseitig. Wer da unüberlegt ändert, gefährdet seine Regierung und die Gesellschaft.«
Es war sehr still geworden. Das Räuspern des Herrn Dr. Grand klang wie ein Gewittergrollen. Aber schnell gewann er an Haltung. »Ich danke Ihnen, Frau Schmitt, für Ihr Interesse an einer Zusammenarbeit.« Er wechselte abrupt das Thema. »Wie schreibt sich Ihr Name eigentlich?«
»Mit tt hinten«, antwortete Anke Schmitt enttäuscht, die sich einen Wortwechsel zu den philosophischen Ansichten Montesquieus erhofft hatte. Aber Herr Dr. Grand lebte im Jetzt und vor allem bei sich selbst.
»TT«, rief er begeistert, »das ist meine Lieblingsspur, Spur der Mitte, Maßstab 1:120, Spurbreite 12 mm, das klingt doch gut!« Schwärmerisch ruderte er mit seinen kräftigen Armen herum, als er mit ihnen den Umfang seiner ersten Modelleisenbahnanlage in die Luft malte. Schweißflecken zeichneten sich in den Höhlen seiner Hemdsärmel ab. »Gut, ich gebe es gern zu, angefangen habe ich auch mit einer kleinen Anlage, rechteckig, Türblatt, Sie wissen …«
Ich wusste es nicht, sah in die Runde, und auch die anderen schienen mit dieser selbstvergessenen Freude nichts anfangen zu können. Sie starrten auf die Tischplatte. Als ich mich zu Wort meldete, dachte ich, so könnte sich das Kind im Märchen »Des Kaisers neue Kleider« gefühlt haben, als es am Schluss sagte, dass der Kaiser doch keinesfalls neue Kleider trüge, sondern nackt sei.
Herr Dr. Grand unterbrach seinen Redeschwall und fragte mich: »Und wer sind Sie?«
»Maria Beifuß, was machen Sie eigentlich hier, und wo ist unser Abteilungsleiter?«
»Bei Fuß, das klingt ja köstlich!«, antwortete Herr Dr. Grand amüsiert, meinen Familiennamen in zwei Worte zerlegend. Dabei lief ihm Speichel aus dem Mund, als ob er gerade an eine Zitrone dachte. Er bewegte sich von der Stirnseite des Tisches auf uns zu und zwängte sich halb zwischen Anke Schmitt und mich. Die anderen Kolleginnen schwiegen und sahen erwartungsvoll ins Leere. Sie wollten eine mögliche Auseinandersetzung zwar erleben, aber
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