Mörderische Landschaften - Kriminelles aus dem Osten
Ich hätte mit kühnen Bildern bis an die Spitze der Charts, wie man Bestsellerlisten im Literaturgewerbe jetzt zu nennen hat, kommen können.
Ich kam zu einem mageren Auftrag pro Jahr. Seit zehn Jahren hangele ich mich mit jährlich einem Auftrag von Mindesteinkommen zu Mindesteinkommen. Ich habe das System verabscheut, aber man konnte ja nichts machen, und jetzt muss ich dieses System schönfärben. Ich bekomme von einem der bedeutendsten Kalenderverlage im deutschsprachigen Raum jeweils im Frühjahr den Auftrag, zu 52, meist sogar 53 neckischen Bildchen je einen Text anzufertigen. Also 52 bis 53 Einzelaufträge in einem Gesamtpaket. Pro Bild 488 Zeichen, was acht Druckzeilen bedeutet. Ja, ich bin ein Kalendertexter.
Das ist nicht das Schlimmste. Fäkalgruben müssen ausgeleert werden und Politikerhandlungen dem Volk erklärt werden. Deshalb sind Pumpenspezialisten und Pressesprecher in der Handwerksrolle zwar nicht ganz oben, aber eben da. Und Kalenderdichter ebenso. Irgendjemand muss die Abreißzettel, die Wochen- und Monatsblätter mit Wörtern, Sätzen, Sinnsprüchen, Erklärungen, Bildunterschriften füllen. Ich täte dies klaglos, aber beim Verlag bin ich nun mal weder für Blumenkalender noch für Urwaldfotos, weder für Katzenposen noch für Kirchenbauten zuständig. Ich bin der Spezialist für Nostalgie. Schlimmer: Ostalgie.
Man hat mich verpflichtet, alljährlich den »Eine-schöne-Reise-durch-die-DDR-Kalender« zu erschaffen. Seit zehn Jahren. Seit diese verklärenden Rückblicke in ein System von heimlicher Datenspeicherung und Zugverspätungen, von Behördenwillkür und fehlendem Winterstreusalz en vogue sind. Seit die Leute vergessen haben, wie man sie einkerkerte und zur Arbeit trieb. Seit überall das Sandmännchen und die guten Halloren-Kugeln gelobt und gehätschelt werden, seit alles mit Rotkäppchen-Sekt begossen und mit »Das ist Fakt!« besiegelt wird.
Ich bin ein Opfer des Systems, weil man mich damals nicht hochkommen ließ, und jetzt komme ich niemals mehr auf die nächste Stufe des Kalenderdichterdaseins – zum Beispiel für Literaturkalender. Ich könnte die Geburtstage großer Kollegen mit klugen Bemerkungen würdigen, könnte Zitate heraussuchen, die die Selbstmörder bzw. Freitodgänger Heinrich von Kleist, Paul Celan oder Georg Heym, Ernest Hemingway oder Stefan Zweig ins Licht der Zukunft rückten. Ich könnte auch Filmgrößen wie Pier Paolo Pasolini oder Kunstgeschichtler wie Johann Joachim Winckelmann oder Modezaren wie Rudolph »Moosi« Moshammer, die allesamt Strichjungen zum Opfer fielen, mit einfühlsamer Kurzprosa würdigen. Doch ich muss mich mit neckischem Zeugs aus einem zusammengebrochenen Staat beschäftigen: Hellerauer Möbel, Kahlaer Porzellan. Gelegentlich darf ich mal Schlangestehen oder die gefälschten Wahlen zu einer Scheinvolkskammer sanft kritisch betexten – aber recht eigentlich will man nur Baden mit badusan, Nimm ein Ei mehr! und Welterzeugnisse aus dem VEB Kirow-Werke im Kalender haben.
Ich habe den übernächstjährigen Kalender vor mir. Wir Kalenderdichter müssen unserer Zeit immer weit voraus sein. Doch werden wir als die eigentlichen Propheten irgendwo gewürdigt? Nimmt jemand davon Notiz, dass wir längst einen Kalender dazu im Angebot haben, wenn plötzlich illustre Karsthöhlen überall auf der Welt entdeckt werden?
Ich habe den Auftrag unterschrieben und die achte Kalenderwoche vor mir. »Abgestellte Kinderwagen vor einem Konsum in Ostberlin« heißt das Blatt. Ich könnte über die Zeitzer Kinderwagenfabrik – einst größter Kinderwagenproduzent des Kontinents! – schreiben. Oder den zinslosen Ehekredit acht Zeilen lang würdigen, sachlich, kritisch und optimistisch, wie die Verlagsherren, die an Rhein und Ruhr sitzen, das wünschen. Denn nur Optimismus wird gern gekauft, dann darf auch mal ein kritischer Schnörkel drangehängt werden. Bei Kalendern Optimismus und Buntheit, bei Tageszeitungen Skandal, Mord und Totschlag.
Doch wenn ich hier über den einstigen Skandal in Zeitz schriebe? Der natürlich vertuscht wurde. Wie plötzlich ein Kind vertauscht wurde. In einem abgestellten Kinderwagen. Weil keinerlei Sicherheitsfirma abgestellte Kinderwagen bewachte. Weil man in der DDR sträflich leichtsinnig mit Kindern umging, sie schnell mal dem Nachbarn zur Beaufsichtigung überließ oder einfach vor einem Kaufhaus abstellte. Weil mangelnde Sicherheit mit dem Mangel an professionellen Sicherheitsfirmen zu tun
Weitere Kostenlose Bücher