Mörderische Landschaften - Kriminelles aus dem Osten
»Wieso hast du denn nichts gesagt?«
»Na, als ich dich an der ›Runden Ecke‹, dem alten Stasiquartier, gesehen habe, dachte ich, sie haben dich verhaftet«, erinnert sich Peggy. »Ich hatte Schiss.«
»Du und Schiss? Den Eindruck hatte ich aber nicht.« Rico grinst breit. »Ich habe dich nämlich auch gesehen.«
»Ich denke, du warst in Prag!« Regina sieht ihn stirnrunzelnd an.
»Sicher, aber nach Genschers Balkonansprache durften wir doch raus«, erklärt Rico. »Ich saß im Zug, als es hier auf dem Dresdner Bahnhof Tumult gab. Und da habe ich Peggy gesehen, mittendrin!«
Peggy nickt und ihre Augen funkeln abenteuerlustig. »Auf dem Bahnhof war damals echt was los! Ich wurde verhaftet, und als es dann im November richtig spannend wurde, saß ich in Bautzen ein und habe nichts mitbekommen.«
»Und was hast du damals gemacht?«, wendet sich Rico an Regina. »Westfernsehen war ja nicht, hier im Tal der Ahnungslosen!«
Regina grinst. »Oh, ich hatte damals andere Sorgen als Demos. Ich war hochschwanger und habe Ende 89 eine Tochter bekommen.«
»Wie bitte?«, fragt Peggy. »Und Thomas?«
Regina atmet tief durch. »Der war schon weg.«
»Hat er sich denn auch bei dir nie wieder gemeldet?«, fragt Rico ungläubig.
Regina schüttelt langsam den Kopf. »Erst dachte ich, der hat mich vergessen«, erklärt sie tonlos. »Vor einigen Jahren habe ich dann eher zufällig mit seiner Mutter gesprochen …«
»Dass ich darauf nicht gekommen bin!« Rico schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Na klar! Seine Mutter.«
»Und? Wo ist er abgeblieben?« Ratze klingt gereizt. »Ich habe selbst zwei Kinder. Man setzt doch nicht einfach so ein Kind in die Welt und verpisst sich!«
»Er wusste doch gar nichts von dem Kind.« Regina lächelt gequält. »Er hat wohl versucht, durch die Donau nach Ungarn zu schwimmen. Jedenfalls sagt das seine Mutter. Und dabei ist er jämmerlich ersoffen.«
»Oh, mein Gott!«, ruft Peggy aus.
»Wenn ich geahnt hätte, was er vorhat«, murmelt Rico. »Ich hätte ihn davon abhalten müssen.«
»Scheißleben! Scheißgrenze!«, schimpft Ratze. »Hätte der Scheißkerl nicht einfach abwarten können?« Er springt auf und beginnt im Raum auf und ab zu laufen. »Ich meine, wir haben doch alle ausgeharrt, du in der Botschaft, du im Knast, Regina sowieso … Ich bin auch erst nach der Öffnung rüber nach West-Berlin.«
»Und dann?«, fragt Regina. »Wie ist aus dir der schnieke Familienvater geworden?«
Ratze wirkt noch immer wütend. »Ach, Scheiß-Punkszene im Westen. Ich habe gejobbt, geheiratet und mache jetzt in Immobilien, bei Schwiegerpapa.« Er hält inne und grinst. »Voll der Spießer, wa?!«
»Ich war auch erst eine Weile im Westen«, berichtet Regina. »Ist aber alleine mit Kind nicht so dolle. Deshalb bin ich zurück nach Dresden.« Sie seufzt vernehmlich. »Erst war ich froh, wieder zu Hause zu sein. Aber dann habe ich sie überall wiederentdeckt, dieselben alten Säcke. Ausgerechnet bei der Jobagentur sitzt eine frühere Kollegin von mir: die größte Stasischlampe von allen – und sie ist meine Sachbearbeiterin!« Sie verzieht das Gesicht. »Grinst mich frech an, diese Ziege! Dabei müsste eine solche Begegnung doch ihr unangenehm sein und nicht mir!«
Die Balkontür fliegt auf. »Peggy, kannst du mal …?« Holger hält einen Teller mit Würstchen in der Hand. »Ich muss mich mit dem Grillen beeilen, der Fiedler von oben meckert schon wieder.«
Peggy nimmt ihm den Teller ab. »Ach, der Fiedler stänkert doch immer herum!«
»Das habe ich gehört«, ruft eine Männerstimme von draußen. »Es ist dreiviertel zehn. Um zehn ist Schluss. Das gilt nicht nur für Lärm, sondern auch Geruchsbelästigung!«
»Jaja, Herr Fiedler, wir kennen die Hausordnung.« Holger schließt die Tür wieder von außen.
»Na, kommt Kinder! Wir wollen doch heute nicht Trübsal blasen!« Peggy stellt die Würstchen ab, erhebt ihr Glas und prostet den anderen zu. »Rico, mein Guter, was ist eigentlich aus dir geworden? Von dir habe ich nicht mehr als eine E-Mail-Adresse. Aber die stimmt offenbar. Also, wohin hat es dich verschlagen?«
»Mal hierhin, mal dahin«, sagt Rico und leert sein Glas in einem Zuge. »Ich war ein paar Jahre in Australien, dann in den Staaten und schließlich in Südfrankreich.«
»Ein echter Weltenbummler«, stellt Ratze grinsend fest.
»Ein echter Heimatloser«, kontert Rico missmutig. »Ich habe Heimweh bekommen …« Er seufzt abgrundtief.
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