Mörderische Weihnacht
auch nicht jeder viel Geduld mit Kindern hat. Aber auch die Frauen haben Angst. Er predigt so schreckliche Dinge, und sie fürchten sich vor der Hölle.«
»Es gibt keinen Grund zur Furcht«, erklärte der Abt, »es sei denn im Bewußtsein einer Sünde. Ich glaube nicht, daß wir hier in der Gemeinde so große Sünder haben.«
»Nein, Herr, aber die Frauen sind zart und leicht einzuschüchtern. Sie suchen nach Sünden, die sie vielleicht unbewußt begangen haben. Sie sind sich nicht mehr sicher, was eine Sünde ist und was nicht, so daß sie nicht einmal mehr zu atmen wagen, aus Furcht, auch das könnte eine Sünde sein.
Aber das ist immer noch nicht alles.«
»Ich höre«, sagte der Abt.
»Herr, in unserer Gemeinde lebt ein anständiger armer Mann namens Centwin. Seine Frau Elen gebar ihm vor vier Tagen ein schwächliches Kind, einen Knaben. Das Kind wurde ungefähr zur Sext geboren, und es war so klein und schwach, daß alle glaubten, es müßte sterben. Centwin eilte zum Haus des Priesters und bat ihn, zu kommen und den Jungen zu taufen, ehe er starb, damit seine Seele gerettet würde. Vater Ailnoth ließ ihm ausrichten, daß er mitten im Gottesdienst sei und erst kommen würde, wenn die Andacht abgeschlossen sei. Centwin flehte ihn an, aber er wollte seine Gebete nicht unterbrechen.
Und als er dann kam, Vater, war das Kind schon tot.«
Es gab ein kaltes Schweigen, und Dunkelheit schien sich über den holzvertäfelten Raum zu senken.
»Vater, er wollte dem Kind kein christliches Begräbnis geben, weil es nicht getauft war. Er sagte, es dürfe nicht in gesegneter Erde liegen, aber er wolle beim Begräbnis seine Gebete sprechen - beim Begräbnis außerhalb der Gemeinde. Ich kann Euch die Stelle zeigen.«
Abt Radulfus sagte mit unergründlicher Schwere: »Er war im Recht.«
»Im Recht! Was ist mit dem Recht des Kindes? Es hätte als getaufter Christ sterben können, wenn er auf den Ruf sofort gekommen wäre.«
»Er war im Recht«, wiederholte Radulfus, unerbittlich, aber mit tiefer Abscheu. »Der Gottesdienst ist heilig.«
»Im Recht war auch die neugeborene Seele«, erwiderte Erwald wortgewandt und ebenso unerbittlich.
»Das ist wahr. Und Gott hört uns beide. Es soll und wird einen Dispens geben. Wenn Ihr noch mehr zu berichten habt, dann fahrt fort, und sagt mir alles.«
»Herr, in unserer Gemeinde gab es ein Mädchen, Eluned.
Sie war sehr schön, aber nicht wie die anderen Mädchen, sondern toll wie ein Hase. Alle kannten sie. Gott weiß, daß sie nie einer Seele außer sich selbst wehgetan hat. Herr, sie konnte zu Männern einfach nicht Nein sagen. Sie ging mit diesem oder mit jenem, aber immer kam sie zurück, bei der Rückkehr so toll wie beim Gehen, legte in Tränen aufgelöst ihre Beichte ab und gelobte Besserung. Und sie meinte es ehrlich!
Aber sie konnte es nicht halten, denn wenn ein Bursche sie ansah und seufzte… Vater Adam nahm sie immer wieder auf, hörte die Beichte, gab ihr eine Buße und die Absolution. Er wußte, daß sie nicht anders konnte. Und sie war so freundlich zu allen Geschöpfen, ob Mann oder Kind oder Tier, immer freundlich - zu freundlich!«
Der Abt hörte still und schweigend zu, denn er sah voraus, was kommen würde.
»Im letzten Monat gebar sie ein Kind. Als sie entbunden und wieder bei Kräften war, kam sie, wie sie immer gekommen war, vor Scham fast verrückt, um zu beichten. Er verweigerte ihr den Beistand. Er sagte, sie habe immer wieder ihr Versprechen auf Besserung gebrochen, und das hatte sie ja auch, aber trotzdem… er wollte ihr keine Buße auferlegen, weil er ihrem Wort nicht glauben wollte, und so verweigerte er ihr auch die Absolution. Und als sie demütig zur Messe in die Kirche kam, schickte er sie wieder fort und verschloß ihr die Tür. Öffentlich und laut tat er es vor uns allen.«
Es gab ein langes, tiefes Schweigen, bevor der Abt sich zu der Frage zwang: »Und was ist aus ihr geworden?« Denn gewiß gehörte sie schon der Vergangenheit an, ein verstoßener Schatten.
»Man zog sie aus dem Mühlteich, Herr. Zum Glück war sie zum Bach hinuntergetrieben, und die, die sie aus dem Wasser zogen, waren aus der Stadt und kannten sie nicht. So nahmen sie sie in ihre eigene Gemeinde mit, und der Priester von St.
Chad hat sie begraben. Es war nicht klar, wie sie ertrunken ist; man hielt es für einen Unfall.«
Aber natürlich wußten alle, daß es keiner war. Das war auf den ersten Blick zu sehen. Selbstmord ist eine Todsünde. Aber was geschieht mit
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