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Mörderisches Musical

Mörderisches Musical

Titel: Mörderisches Musical Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Meyers
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Kissen, um die Schluchzlaute zu ersticken.
    So muß ein Nervenzusammenbruch sein, dachte sie.
Man verliert die Kontrolle. Ihre Eltern waren seit fast zwanzig Jahren tot, bei
einem Zusammenstoß nur drei Meilen von ihrem Haus entfernt von einem
betrunkenen Autofahrer getötet. Warum jetzt?
    Als die Angst sich legte, blieb der Schmerz —
ein dumpfer, roher Schmerz unter der Brust. War es das, worauf Sonya angespielt
hatte? War dies das andere Trauma, mit dem man sich befassen mußte? Man
brauchte keinen Psychiater, um die Bedeutung ihres Traumes zu übersetzen.
    Wetzon trocknete die Augen am Kissenbezug und
tastete nach ihrer Uhr, dann nach dem Lichtschalter. Sie befand sich in Boston
im Ritz. Es herrschte Totenstille. Ihre Uhr zeigte fünf. Sie war außer
Atem, als hätte sie die ganze »Spiegelnummer« aus Follies durchgesteppt,
ohne zu verschnaufen.
    Das Zimmer engte sie ein. Die Decke schien sich
langsam zu senken. Als sie aufstand, fuhr ihr ein Krampf in die linke Wade und
sandte Schmerzwellen von der Wade zum Fuß und zum Oberschenkel.
    Was geschah mit ihr? Unter Höllenqualen humpelte
sie zur Badewanne und ließ das Wasser eiskalt laufen, um die Wade zu massieren. Ich muß weg von hier. Sie stieß ihren Fuß stöhnend ins kalte Wasser und
knetete und massierte den Krampf weg. Ihr rechter Knöchel war schwarz und blau
und empfindlich. Sie verlor die Beherrschung. Zieh dich an, pack deine
Sachen und reise ab, Wetzon.
    Im Nu hatte sie geduscht, sich angezogen,
Make-up aufgelegt und gepackt. Sie trug ihre Tasche selbst zum Aufzug. Das
Hotel erwachte gerade erst. Es war Samstag.
    Sie rechnete nicht damit, um diese Uhrzeit
Bekannten zu begegnen — Theaterleute waren in der Regel keine Morgenmenschen —
, aber als sie den Aufzug betrat, stieß sie mit Joclyn zusammen.
    »Entschuldigung, ich dachte, ich wäre schon
unten.« Das Gesicht der Schauspielerin wies Tränenspuren auf, und in den Fältchen
unter den Augen hing Wimperntusche. Ihr Flirt mit  Jojo machte sie anscheinend
nicht sehr glücklich. Sie wandte sich von Wetzon ab.
    »Joclyn, kann ich etwas für Sie tun?«
    »Sie?« Es war eine Anklage.
    »Ja. Ich bin dabeigewesen, wissen Sie.«
    »Ach, tatsächlich?«
    Sei still, Wetzon, dachte sie. Du kommst nicht
ohne Schrammen davon. »Ich meine, das Theater steckt immer noch in mir.«
    Joclyn schien dies in Erwägung zu ziehen. Als
sich die Tür zur Halle öffnete, ging sie hinaus, dann wandte sie sich um. »Sie
gehören nicht mehr zu uns. Sie sind eine von denen.«
    Die Worte waren eine schallende Ohrfeige. Sie
schwirrten Wetzon noch durch den Kopf, während sie auf ein Taxi wartete. In
einer Sache hatte Joclyn recht. Wetzon gehörte nicht mehr zum Theatervölkchen.
Sie war eine neurotische Frau, die auf die Vierzig zuging und die nie eine
richtige Beziehung mit jemandem gehabt hatte.
    Der Urheber dieser Worte stieg gerade vor dem
Hotel aus einem Taxi. »Leslie, Liebe!« Mort begrüßte sie mit einem feuchten
Kuß. »Du fährst? Mach’s gut.«
    Sie stieg in sein Taxi. »Wo kommen Sie gerade
her?« fragte sie den Fahrer.
    »Logan.«
    »Logan?« Was zum Kuckuck hatte Mort am Flughafen
zu schaffen? »Dahin fahren wir auch.«
    Der Flugkartenverkäufer am Schalter des
USAir-Pendlers unterhielt sich mit einer Gruppe. Er hielt einen Pappbecher mit
Kaffee in den Händen. Weil Wetzon die einzige Kundin war, ließ er sich Zeit.
Warum auch nicht? Schließlich war es Wetzon, die so schnell wie möglich die
Stadt verlassen wollte. Am liebsten hätte sie sich Flügel wachsen lassen und
wäre weggeflogen.
    Als er sein Gespräch endlich beendet hatte,
lächelte der Schalterangestellte Wetzon höflich an und nahm ihre Kreditkarte
entgegen. Der erste Flug ging um sechs Uhr dreißig, teilte er ihr mit, und der
war gerade weg. Sie nahm ihre Tasche und folgte den Flugsteigangaben zum
Kontrollband, legte Mantel, Reisetasche und Handtasche darauf, dann ging sie
ohne Probleme durch den Eingang.
    Ein heruntergekommenes Restaurant befand sich
gleich links von ihr. Wetzon bestellte einen kleinen Orangensaft, koffeinfreien
Kaffee und einen getoasteten englischen Muffin, wischte ein zerknülltes
Bonbonpapier und ein Sortiment Krümel vom Sitz und setzte sich hin. Behutsam
vermied sie jede Berührung mit dem Tisch, der so klebrig war, daß man Fliegen
darauf hätte fangen können. An den anderen Tischen saßen ein Arbeiter in
Flughafenuniform und zwei ältere Frauen in Hosenanzügen aus Polyester und mit
dauergewelltem Haar, das kraus

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