Mörderisches Musical
durften. Doch in den letzten Tagen vor einer Premiere
außerhalb änderte sich alles. Produzenten bekamen mehr Spielraum. Die Proben
gingen von acht bis Mittag, eins bis sechs und sieben bis Mitternacht — dann
brach alles schlagartig ab. Denn nach Mitternacht war »goldene Stunde«, da
erhielten Bühnenarbeiter den doppelten Lohn — fünfzig, sechzig, siebzig Dollar
die Stunde — , obwohl sie sowieso schon Überstunden bezahlt bekamen.
Wetzon suchte sich einen Randplatz drei Reihen
hinter dem Computertisch, der mit noch mehr zerknüllten Servietten, Kaffee- und
Imbißbehältern übersät war, und hielt nebenbei ständig nach Mark Ausschau. Das
Theater war kalt und ungelüftet.
Das Lichtstichwort kam wieder zu spät.
»Halt!«
Mort stürzte aus der Dunkelheit rechts im
Proszenium und schrie nach Kay. Aber als er sich umwandte, sah Wetzon, daß es
nicht Mort war, sondern Sam Meidner, der die gleiche Mütze wie Mort trug. Mit
seinem grauen Bart sah der Komponist auf den ersten Augenblick bei der trüben
Beleuchtung Mort erstaunlich ähnlich. Doch der saß in der dritten Reihe bei
Carlos.
Fran schlurfte den Mittelgang hinunter und
setzte sich in die Reihe hinter Wetzon. Sein Stock klapperte gegen die Lehne
des Sitzes. Er drückte fest ihre Schulter. »Wie fühlst du dich?« Er sprach in
normalem Plauderton, versuchte nicht zu flüstern.
Wetzon nickte und lächelte ihn an.
»Von oben«, gab JoJo an.
Sam zog sich zurück, und die Schauspieler
begannen die Nummer von vorn. Als sie schließlich ohne Unterbrechung zum ersten
Finale kamen, stießen alle einen Seufzer der Erleichterung aus. Das Dakapo ging
glatt bis zur letzten Note. Dann kam ein für einen zügigen Szenenwechsel
entworfener Prospekt viel zu schnell herunter und krachte auf die Bühne. Die
Schauspieler sprangen beiseite. Für einen Moment herrschte verblüfftes
Schweigen. Wie eine Eruption, ohne Schlinge und Stützkragen, kam Mort von
seinem Platz hinter JoJo hoch.
»Phil! Wo ist der Arsch? Phil !. Verdammt.
Ich bring ’ ihn um.«
»Alle okay?« rief JoJo.
Alle bejahten.
Hinter Wetzon murmelte Fran leise vor sich hin,
gab Unmutsäußerungen von sich.
Als Phil endlich auftauchte, am Boden zerstört,
schrie Mort: »Verdammt noch mal, was ist mit dir los? Kriegst du denn überhaupt nichts hin?«
Der Inspizient ließ den Kopf hängen. »Es tut mir
leid, Mort. Ich weiß nicht, was passiert ist.«
»Scheißer«, murmelte Fran.
»Faß den Jungen nicht so hart an, Mort. Wir
fühlen uns alle ein wenig überfordert«, warf Carlos ein.
Mort wollte sich auf Carlos stürzen, besann sich
jedoch eines Besseren. Er stampfte mit dem Fuß auf und schüttelte beide Fäuste.
Rumpelmortchen bekam einen Anfall. »Stell fest, was passiert ist!« brüllte er.
Walt Greenow und ein Bühnenarbeiter traten auf
die Bühne. Sie blickten nach oben in die Soffitten und zeigten auf etwas. Walt
sprach mit Phil, der in den Seitenkulissen verschwand.
»Alles okay«, rief Walt in Morts Richtung. Dann:
»Zieht ihn auf.« Der Prospekt ruckte. Ein Stöhnen kam aus dem Orchestergraben.
»Langsam!« drängte Walt.
Der Prospekt ging wieder hoch, neigte sich kurz,
kam herunter, ging dann hoch.
Die Erleichterung war hörbar. Wetzon wollte
etwas zu Fran sagen, aber als sie sich umdrehte, war er nicht mehr da.
»In Ordnung, steigen wir am Ende des Dakapo
ein.« Mort hatte sich anscheinend beruhigt. Er legte einen Arm um Carlos’
Schultern und flüsterte etwas. Carlos lachte.
Diesmal senkte sich der Prospekt, wie er sollte.
Vereinzelter Applaus aus verschiedenen Ecken des Zuschauerraumes begrüßte ihn.
JoJo hob die Hand, und die Kostümprobe nahm
ihren Fortgang. Blitzlichter leuchteten auf. Der Fotograf war tatsächlich Irwin
Rodgers. Wetzon erkannte ihn, als er sich umdrehte, um einen neuen Film
einzulegen. Sein Toupet saß schief.
Wetzon suchte das dunkle Haus ab. Sie sah Fran
schwerfällig durch den Seitenvorhang in die Kulissen gehen.
Poppy Hornberg stand ziemlich weit hinten im
Mittelgang, die Hände auf die breiten Hüften gestützt, und unterhielt sich mit
Peg Button, die ein großes Musterbuch aus einem glänzenden Material in der Hand
hatte.
Wo war Mark? Gerade als Wetzon an ihn dachte,
sah sie ihn aus der Durchgangstür zu den Garderoben rechts kommen, mit einem
Pappkarton in den Händen, den er so vorsichtig trug, daß Wetzon wußte, daß er
Flüssiges brachte. Kaffee, Cola Light. Die Pflichten des Laufburschen.
Wetzon schob sich durch die Sitzreihe zum
anderen
Weitere Kostenlose Bücher