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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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zu schaffen. Das ist so, als ob, ich weiß nicht, als wäre er vom Kellner zum Wassernachgießautomaten degradiert worden.«
    Sie saßen inmitten des gewaschenen Glanzes New Yorks. Die von den schwarzen Händen der Straßenjungen den weißen Plastikeimern abgerungenen Rhythmen brachten Fjodor in Verlegenheit, wie jede Musik, die ihn ergriff. Sein Dichterkopf wusste nicht, wohin damit, wie diese Rhythmen zu verwenden wären.
    »Stell dir vor, er ernährt damit die ganze Familie in seinem, sagen wir, karpatischen Dorf und befreit seine kleine Schwester von der Notwendigkeit, eine Prostituierte zu werden. Und dann schau, sag mir«, sagte John, der vor kurzem mit einem Studenten dessen Seminararbeit über Kapitalismus im postsowjetischen Russland besprochen hatte, »sind eure in Russland etwa nicht so? Nicht so geworden? Nicht noch schlimmer?«
    »Nein, wir glauben, klar, dass wir jetzt Amerika und Kapitalismus haben, aber so einfach ist das nicht. Ich weiß nicht. Anders. Und weißt du, so sehr wollen wir nun Amerika und den Kapitalismus auch wieder nicht. Sie sind jetzt wieder alle links und antikapitalistisch. Es funktioniert nicht in Russland. Kaum hat ein Russe einen eigenen Laden, ist er für die anderen bereits ein Ausbeuter und ein Arschloch. Blutsauger. Warte, ich muss Natascha anrufen. Nein, warte, weißt du noch, der besoffene Major in der Kneipe – was war das?«
    »Wer?« fragte John. Das war mehr als zwanzig Jahre her. John war sicher, dass Marina und Fjodor damals nichts bemerkt und diesen Major nicht wahrgenommen hatten. Es war eine blöde Geschichte, die John manchmal vergaß, manchmal tauchte sie wieder auf, aber dass Fjodor etwas mitbekommen hatte, das war neu. Und Marina?
    »Na, du weißt schon«, sagte Fjodor, »ich wollte dich immer fragen.«
    »Nein«, sagte John, »ich weiß nicht, was du meinst. Sorry, Telefon. Hier ist es zu laut, ich bin gleich wieder da.«
    Es war Professor Gurjev, und John berichtete, dass Fjodors Trinkphase möglicherweise am Abklingen war und dass sie in Chicago zu Fjodors Lesung möglicherweise erscheinen würden. Aber bei Fjodor könne man ja nie wissen. John fühlte sich plötzlich müde, schwunglos. Alt. Der ganze Zeit- und Nervenaufwand für Fjodors Lesereise war ihm plötzlich zu schade. Klar war Fjodor ein großartiger Dichter. Aber musste man sich deswegen alles gefallen lassen? Und jetzt noch diese Scheiße mit dem Major. Übrigens würde John selbst gerne wissen, was aus diesem Major geworden war.
    SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN / WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
    Miriam machte Licht im Garten, und es unterstützte das schwache Licht aus den Hausfenstern, »es ist ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit«, sagte sie und stellte neue Gläser auf den Gartentisch, weil Victor wie immer, nachdem die Gäste weg waren, noch eine Weile wach bleiben und noch etwas trinken wollte. Miriam hatte so viele russische Gewohnheiten von Victor übernommen, und Victor im Laufe der Jahre so viel von ihr, dass Marina oft schien, Miriam sei russisch und Victor amerikanisch. Bei diesem Brauch war ihr allerdings unklar, ob er aus einem russischen oder einem amerikanischen Register stammte. Kein Wunder, dachte sie, dass Victor sich so todsicher in Miriam verliebt hatte: Jahrzehnte sind vergangen, und sie ist immer noch wie ein gewundener gusseiserner Blumenstängel, der aus einem Balkongitter in Wien genommen wurde, schlank, groß, großnasig, schwarzes Haar in vielen auseinanderfliegenden Locken, Distelstern-Augen, als wäre sie ein Däumelinchen, aus einem gusseisernen Korn gewachsen, das ihre Mutter bei der Flucht aus dem angeschlossenen Österreich mitgenommen hatte, um es später zu pflanzen (Miriam-Däumelinchen kannte von ihrer Großmutter drei deutsche Wörter: »Schwalbe«, »Ameise« und »Bienenstich«). Anfang der achtziger Jahre schaffte es die Geschichte von Miriam und Victor in die Weltnachrichten: wie zuerst Miriam kein Einreisevisum bekommen konnte, um nach Leningrad zur eigenen Hochzeit zu kommen, wie dann Victor lange Zeit kein Ausreisevisum bekommen konnte, um zu seiner Frau in die USA zu fliegen (eine Mustergeschichte, wie speziell dazu erfunden, um als Karte in der Weltpolitik ausgespielt zu werden).
    Marinas Vortrag bei der Konferenz hatte Anklang gefunden. Sie hatte ihn auf Victors Wunsch geschrieben, sie möge etwas Informationshintergrund im Vorfeld von Fjodors Lesung geben. Dementsprechend handelte er von der spätsowjetischen inoffiziellen Dichterszene,

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