Mörikes Schlüsselbein
sagte Fjodor. Diese Bitte gehörte zur engen Auswahl an Dingen, die er in fast jeder westlichen Sprache ausdrücken konnte. Es gab zwar immer weniger Gelegenheiten, diesen Satz zu sagen, doch sogar in Amerika gab es ab und zu ein Straßencafé, wo man am Tisch unter freiem Himmel ungestraft rauchen konnte. Fjodor, der schon als Kind weder linguistische noch weltmännische Begabung aufwies und auf dem Gebiet der Fremdsprachen eher draußen war, bewunderte die jüngeren Dichterkollegen dafür, dass sie, nach der Öffnung der Grenzen aufgewachsen, mit derselben Selbstverständlichkeit unrussisch sprechen konnten, mit der Singvögel ihre Strophen in die Luft setzen. Ihm schien, dass sie das besser konnten, als russisch sprechen bzw. schreiben. Jetzt aber war keiner von ihnen da, nur Professor John Perlman, Übersetzer seiner Gedichte und sein Vergil in New York. Und sein Jugendfreund. Den er in seinen jungen Jahren geliebt hatte. Mit der ganzen Verzweiflung eines einsamen jungen Mannes, der in nichts (außer den eigenen Gedichten) sicher war und in einem anderen Mann eine Möglichkeit sah, dem (außer den Gedichten) faden Leben mit einem anderen Leben etwas Existenz zu verleihen. Es kam nie zu einer physischen Beziehung, aus Gründen, die er nie zu ergründen versucht hatte. Er wäre sich dieser Liebe nicht bewusst gewesen, neigte er nicht dazu, die geringsten Regungen seines Gemüts oder seines Körpers verbal zu erfassen. Der Schatten der gewesenen Anziehung blieb und tat manchmal so, als wäre er von einer gewesenen Beziehung geworfen. Die sinnliche Spannung war irgendwann ins Irgendwo vergangen, als hätte es sie nie gegeben. Die gegenseitige Vertrautheit und das Vertrauen, die immer gleich entstanden, egal wie lange sie sich nicht gesehen hatten, waren die übliche verwandtschaftsähnliche Nähe, die von einer Jugendfreundschaft übrigbleibt. Aber diese gegenseitige Nähe entartete ab und zu in eine Feindseligkeit, für die nur der Schatten der verfehlten Liebe verantwortlich sein konnte. Heute war John gereizt, weil er gestern (als er aus New Jersey gekommen war, wo er seine Eltern besucht hatte) Fjodor in seiner Trinkphase vorgefunden hatte und die Tickets nach Chicago umtauschen musste.
Auf das »Can I have an ashtray please?« wurden die Augen des mexikanischen Jungen (so riet Fjodor, dachte aber gleich, dass er, gut möglich, gar kein Mexikaner war, sondern Albaner, Georgier, Afghane, Ägypter oder wer sonst so ein tiefes dunkles Augenstrahlen haben konnte), der John gerade das Wasser nachgoss, flehend groß, und Fjodor sagte sich, dass er das Angebot seiner Frau, ihm bei der Auffrischung seines Englisch zu helfen, besser nicht abgelehnt hätte. Meine Frau, dachte Fjodor ungläubig, meine Tochter, kann das sein, dass das wirklich er war, der eine Frau und eine Tochter hatte? Der sich jedesmal wunderte, dass er kein Kind mehr war, als ihm das aus irgendeinem Grund einfiel: wenn ihn ein alternder Mann im Spiegel daran erinnerte; wenn junge Dichter ihm Respekt zeigten, der frei von jeder Konkurrenz war; wenn junge Dichterinnen ihm ungeniert zu verstehen gaben, dass sie ihn attraktiv fanden (wie sehr hätte er beides in seinen frühen Jahren gebrauchen können! Und jetzt hat er nur die Sorge, dass ihm seine zuckerne Frau nicht zergeht).
John tat Daumen und Mittelfinger zusammen und klopfte mit dem Zeigefinger die Asche von einer unsichtbaren Zigarette ab. Der Junge nickte erleichtert und rannte mit einer Geschwindigkeit weg, die ihm unter anderen Umständen ein Sportabzeichen gebracht hätte: zwischen den Tischen, die der dunkel verglasten Wand entlang und dem beginnenden Frühling entgegen aufgestellt waren.
»Entspann dich, der Kleine kann Englisch noch weniger als du. Er ist hier nur fürs Wasserbringen zuständig. Bald kriegt er vielleicht auch die Lizenz fürs Servietten-und-Besteck-Bringen. Wenn er weiter so flink macht«, sagte John.
»Sag bitte, John, bist du nicht zufällig, ich wollte das immer fragen – weißt du noch, dieser Major …«
Da war der Junge schon zurück. Er stellte den Aschenbecher auf den Tisch und goss den beiden Wasser nach.
»Thank you! Shit, John, ich kann das nicht verstehen. Mir würde reichen, wenn er sich mit normaler Geschwindigkeit bewegen würde. Und das Wasser muss auch nicht unbedingt nach jedem Schluck nachgefüllt werden. Ich werde nervös, beginne mir bei jedem Schluck zu überlegen, ob er wirklich nötig ist. Oder trinke zu viel, um ihm mehr Raum fürs Nachgießen
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