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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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insbesondere in Leningrad. In der Vorbereitungsphase hatte Marina ein seltsames Gefühl, bei einer philologischen Konferenz über eigene Jugendfreunde erzählen zu müssen (zu dürfen). Jetzt war sie durchaus zufrieden, wie alles gelaufen war. Aber nicht mit ihrem Englisch und nicht mit den Gesprächen, die sie versucht hatte zu führen: »Wie viele Menschen da waren und wie viel geredet wurde! Und wie wenig davon ist bei jemandem angekommen! Wie Fledermäuse.«
    »Was ist mit Fledermäusen? Sind sie schon da? Sagte ich eben, wir haben einen zeitigen Frühling«, sagte Miriam.
    »Nein, nicht die, Fjodors Fledermäuse-Gedicht:
    Sie schreien, so laut wie ein Bohrhammer in der benachbarten Wohnung, wenn du deinen Morgenschlaf und die Nachbarn ihre Renovierung haben wollen. Aber du hörst ihren Ultraschall nicht. Sie nehmen deine Frequenzen wahrscheinlich auch nicht wahr, wie könnten sie anders deine Nähe ertragen. Oder doch? Dann sind sie besser dran als du. Oder schlechter. Es gibt bestimmt auch viele kleine und große Wesen um dich herum, die du nicht nur nicht hörst, sondern auch nicht sehen kannst, weil sie in anderen Wellen des Lichtspektrums erfassbar wären als die, die du wahrnimmst. Auch dein Berührungssinn bleibt von manchem Wesen unberührt, und der seine von dir. Raumsparend. So passen mehr Weseneinheiten in eine Raumeinheit.
    So ungefähr, weißt du noch?«
    Miriam bewahrte standhaft ihren wachen Gesichtsausdruck. Victor döste. Die Streichschatten der Fledermäuse konnten Marina zwar hören, schenkten ihren Worten aber keine Aufmerksamkeit. Marina wollte den Fledermäusen von der nichtigen Episode in Frankfurt erzählen, an die sie immer wieder denken musste. Aber da öffnete Victor die Augen und sagte: »Na gut, gehen wir schlafen.« Alle drei nahmen sie jeweils ein Glas, um es unterwegs zu ihren Schlafzimmern neben die laufende Spülmaschine zu stellen. Bevor sie aber nach oben gingen, sagte Victor noch: »Ach ja, John hat angerufen, so sicher ist es wieder nicht, dass sie morgen ankommen, Fjodor ist noch nicht im Hotel, sein Mobiltelefon reagiert auch nicht.«
    Marina, die begriff, warum Victor so wenig Enthusiasmus für das Fjodor-Zitat zeigte, sagte: »Was soll ich denn dann machen? Nein, dann muss wenigstens John kommen, das ist schließlich auch sein Buch, er ist doch der Übersetzer. Ach, Scheiße! Klar, er ist ein großartiger Dichter, aber warum müssen alle so viel Extra-Spaß mit ihm haben, immer!« Das hätte sie im nüchternen Zustand nie gesagt, dachte sie gleich.
    SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN / WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
    Fjodor blieb in der Menge stehen, um sich eine Frau in kurzem rundem Jäckchen oberhalb der glitzernden langen Beine genauer anzusehen und zu überlegen, wie man sie beschreiben könnte, Stelzvogel nicht, aber wie dann, ein Stieleis mit zwei Stielen, auch nicht, ein …
    »Mein Lieber, du bist in den USA, es ist bei uns eigentlich nicht erlaubt, den Frauen hinterherzuschauen«, sagte John und verärgerte seinen Freund, der des Spazierens durch Manhattan müde geworden war, dem es zu warm war, der Durst und Hunger hatte, der nicht mehr wusste, ob er je ein Stieleis mit zwei Stielen gesehen hatte, der an eine (seine) Frau dachte, die ihm jederzeit zerbrechen oder wegschmelzen konnte, von der er gerade nicht wusste, was sie tat.
    »John, wie bist du überhaupt darauf gekommen, die Fünfte Avenue zu nehmen? Kein normaler Mensch wird sich in dieser Straße fortbewegen wollen! Kein normaler Mensch wird sich hier etwas kaufen wollen! Auch essen wird er hier nicht! Ich bin sicher, dass kein normaler Mensch sich hier je etwas gekauft hat. Wir hätten im Central Park bleiben sollen, da blühen wenigstens die Bäume, jetzt stecken wir für immer hier fest!« Eine Aversion gegen die Fifth Avenue fand Fjodor schick.
    Ein Junge mit schwarzen Händen und weißem Eimer hatte das Gesicht seines gestrigen Taxifahrers.
    Eine männliche Schaufensterpuppe, sportlich gekleidet und kopflos, mit Baseballmütze in der Hand und Sonnenbrille vor der Brust, hatte die Figur und Körperhaltung eines Moskauer Prosaikers, der ebenfalls mit Vorträgen in den USA war und Fjodor vorgestern Abend erzählt hatte, es gebe ein ernsthaftes Problem im Leben eines ernsthaften Schriftstellers: Es gibt eine Zeit, in der du prominent genug bist, um in die schicke Gesellschaft aufgenommen zu werden. Aber du verdienst noch nicht so viel Geld, dass du mit dieser Gesellschaft Schritt halten kannst. Fjodor

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