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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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spürte leichtes Bedauern, dass er darauf nichts erwidert hatte, zum Beispiel, dass er, Fjodor, nie ein solches Problem haben werde, weil die wirklich ernsthaften Dichter in solche Gesellschaften erstens sowieso nie eingeladen werden und zweitens dort nichts zu suchen haben.
    Eine Chinesin, die im Hof der St. Patrick’s Cathedral saß und die Batterie in ihrer Kamera wechselte, wurde plötzlich zu Lilja, mit ihrem Pony in der Stirnmitte und ihrem roten Mund.
    Fjodor durchzuckte der Verdacht, alle Menschen seien nur aus Papier geschnittene auswechselbare Figuren, von einem fernen Performancekünstler gesteuert. Und wenn es zu solchen Bildüberblendungen kommt, wenn Dinge sich anhäufen und verdoppeln, wenn all diese Zusammentreffen, Zusammenfälle, Zusammenspiele zu sehen sind, heißt das, dass die Teile des Mechanismus nicht sauber ineinander greifen, dass sich die verdeckten Details (Zahnräder, Schrauben, Kolben) verräterisch zeigen. Dieser Argwohn gegen die Realität war ein wiederkehrender Zustand, der ihm je nach seiner Verfassung entweder nicht geheuer war oder als hoffnungsvoller Hinweis auf einen transzendenten Spielmeister erschien.
    Als sie trotz allem das Metropolitan Museum erreicht hatten, war John immer noch verstimmt. Nach einigen Stunden Kunst wurde er noch müde dazu. In der altägyptischen Abteilung fragte ihn Fjodor, ob er wisse, wo sie sich befänden:
    »Weißt du, wo wir sind, John?«
    »Im Met«, John hatte keine Lust mehr, Fjodors Einfällen zu folgen. Victor wird wohl nie mehr seine Ideen unterstützen, sogar wenn sie morgen tatsächlich in Chicago ankommen. Und dieser blöde Major, hoffentlich war das eine vorübergehende Eingebung nach mehrtägigem Alkoholeinfluss, die nie wieder auftaucht.
    »Nein, nicht das. Die Ägypter haben all das für das Jenseits gedacht, verstehst du, sie wollten mit all dem ins Jenseits kommen. Und nun sind sie da! Verstehst du nicht, was das bedeutet?«
    »Was?«
    »Das bedeutet, dass wir in ihrem Jenseits sind! Wir sind die Unterwelt-Gestalten! Sie sind hier gelandet und meinen, dass wir vielleicht die Richter und Gottheiten sind! Ich bin Osiris und du bist Ptah.«
    »Nein, ich will Osiris sein«, sagte John.
    Aber Fjodor hörte ihn nicht, er folgte den bunten Figuren, die plötzlich auseinanderstrebten, wie Käfer aus einer Streichholzschachtel, die von der Mutter eines jungen Insektensammlers geöffnet wird, in der falschen Annahme, darin seien Streichhölzer.
    Während John die benachbarten Säle auf Fjodors Anwesenheit hin untersuchte (die Met-Wächter schielten argwöhnisch herüber) und dachte, Fjodor habe wieder überraschend jemanden getroffen, der ihn eingeladen hat gemeinsam ein Glas zu trinken, folgte Fjodor den sich zerstreuenden ägyptischen Plastiken. Er sah ein türkisblaues Nilpferdchen auf einem winzigen sephardischen Friedhof in Manhattan grasen, auf einem Fleckchen aus dem 17. Jahrhundert, das dem Tier der geeignetste Ort für eine altägyptische Geisel zu sein schien; er sah eine schlanke Frau in gestreiftem, eng anliegendem Kleid, mit einem Korb auf dem Kopf und einer Ente in der Hand, auf dem Laufsteg defilieren, oberhalb des Cafés, in dem er und John über den Kapitalismus gesprochen hatten. Er sah sich in der Spiegelverkleidung eines Wolkenkratzers: von der Frühlingssonne gebräunt, knochig, schwarzhaarig; war er von hier, oder war er erst mit den Met-Ägyptern hierher gekommen?
    SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN / WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
    »Sehr geehrte Damen und Herren,
    leider konnte Fjodor Stern aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Präsentation seines Buches erscheinen. Daher werde ich, der die Ehre hat, sein Übersetzer zu sein, Ihnen sein Werk vorstellen. Ich lese zuerst ein Kapitel vor, das einen russischen Blick auf die USA darstellt. Also, wie sieht man uns aus der verschneiten Ferne«, sagte John und dachte sofort, dass es seiner Begrüßung an Witz fehle. Oder an Dramatik. Er begann zu lesen:
    Amerika – zu groß, um nahtlos zu sein. Immer wieder schlägt das Urchaos durch.
    Es geht mir hier manchmal wie in einer russischen Provinzstadt im Norden: Eine Straße mit festlich beleuchteten großen Häusern. Kurz vor Neujahr. Schnee und Kälte sind gezähmt. Lichterketten. Lachen. Die Schwarzbrotkruste der Nacht riecht trügerisch nach warmer Feinbrotkruste. Hinter einem harmlos aussehenden Haus beginnt plötzlich die Leere, ein breites weißes Feld, Ödnis. Du fühlst dich verloren. Jemand pfeift ein langes freches

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