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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Großeltern am Anfang des Krieges nach Kasachstan verbannt, was sie als Russen vielleicht vor dem Hungertod im belagerten Leningrad rettete, aber viele Familiensachen gingen natürlich verloren. Die Papiere, dass sie eigentlich » von Stern« waren, hatten sie bestimmt noch früher vernichtet. Die Familie war ohnehin bereits im 19. Jahrhundert lediglich durch den Namen mit der eigenen Herkunft verbunden.
    Es war ein geräumiger Wigwam, von einem Indianerstamm errichtet, der einst von hier nach weiter Draußen vertrieben worden war und vor kurzem seine Söhne wegen dieses musealen Auftrags hierher geschickt hatte. Sie sprachen über Fjodor, dass er nicht hier war, obwohl er hier sein sollte. Alle waren einerseits enttäuscht, wollten andererseits nicht lästern. Dann sprachen sie über Fjodor, dass er, seit er verheiratet war, keine Gedichte mehr schrieb. Niemand wollte über Natascha lästern, so gab es nicht viel Stoff zu diesem Thema. Dann sprachen sie über Fjodor, dass seine Prosa genau so verrückt wie seine Gedichte war.
    »Wie sind die Texte bei euch angekommen?,« fragte Marina.
    »Was heißt ›bei uns‹? Immer sagt ihr ›bei uns‹, als wären wir Außerirdische. Ihr alle vergleicht einen Berliner oder von mir aus einen Moskauer Professor mit unserem Farmer und unterm Strich kommt raus, dass eure Professoren mehr Bildung haben als unsere Bauern. Natürlich sind die Texte gut angekommen«, John verzichtete auf seine übliche Gelassenheit, vielleicht um die anderen daran zu erinnern, dass er zwei Wochen mit dem trinkenden Fjodor hinter sich hatte. Miriam nickte energisch. Victor lächelte nachsichtig.
    »Wisst ihr, was in Frankfurt war, als wir zum Flughafen gefahren sind?«, fragte Marina, um das Thema zu wechseln und ihre Geschichte endlich los zu werden, die nicht einmal eine Geschichte war:
    Der Taxifahrer war ein redseliger Ägypter. Nachdem er Marina, einen österreichischen Literaturkritiker, eine deutsche Slawistin und einen Schweizer Übersetzer (»Klingt wie der Anfang eines Witzes«, sagte Marina) nach ihren Berufen befragt hatte, sich über die Finanzkrise äußerte und feststellte, dass Marina Russin war, ging er zur Weltlage im Allgemeinen über. Irgendwo am Museumsufer sagte er, »Ja, Islam ist schlimm. Nicht wahr?« Die vier Fahrgäste schwiegen. »Das ist so was von schlimm, glauben Sie mir«, sagte er. Die vier Fahrgäste schwiegen. Während Marina sich überlegte, wie sie am diplomatischsten sagen könnte, dass jede Religion den Menschen so viel Freiheit nimmt, wie man ihr erlaubt, meldete sich der Literaturkritiker: »Ach nein, ich bitte Sie, nur die Extremisten sind schlimm, der Islam hat viele positive Seiten.« Der Fahrer winkte verdrossen ab und schwieg bis zum Flughafen.
    Miriam begann von den Deutschen und der antiislamischen Propaganda zu erzählen. Victor blätterte im letzten »New Yorker«. Marina sagte: »Versteht ihr, es roch im Auto nach Angst. Ich schäme mich jetzt, dass ich dem Ägypter nichts Vernünftiges sagen konnte.«
    Victor sagte: »Ich kenne diesen Geruch. Das ist keine Angst. Das ist political correctness .«
    Miriam, die immer noch alles Amerikanische vor Victor verteidigte, auch political correctness , war unschlüssig, was sie sagen sollte. Und John merkte nicht, dass das ein Themenwechsel war.
    Im nahen Draußen strahlte der Michigansee seine Kälte aus, die der bereitwillige Wind in alle Straßen und Höfe austrug. Die Spitzen und Zinnen der Hochhäuser rauchten die Pfeifen, die die Indianer einst in Eile hier hatten liegen lassen. Die grauen Rauchwolken verjagten pfeifend das weiße Gewölk.
    SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN / WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
    »Das ist doch einfach«, sagte John, im Flughafen Newark mit Fjodor beim Karottensaft sitzend, »›gonna‹ heißt ›going to‹, ›gotta‹ heißt ›got to‹, ›wanna‹ heißt ›want to‹ und ›dunno‹ heißt ›don’t know‹.«
    »Dunno«, sagte Fjodor.
    »Und ›ain’t‹ ist ›to be‹ in present tense negative für alle Personen. Und ist für die Verneinung auch sonst gut geeignet«, sagte John.
    »Klar«, sagte Fjodor.

    ♦

SPIEL IM AUFTRAG
    SPIEL
    John stieg aus dem Auto aus, den Rucksack seitlich über einer Schulter, »danke, Beth, gute Ferien« – »In Ordnung, Prof, Ihnen auch«, nicht vergessen, Beth für das neu gestiftete Stipendium vorzuschlagen. Stopp. Im Sinne von: »Weiter gehen« und »Nicht weiter denken«.
    Es ist wie eine Mondsucht, ein Anfall, dem du nicht

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