Mörikes Schlüsselbein
Uferpromenade wurde es bereits von der Elektrizität verdrängt. Auf den glitschigen Magnolienfallblüten hinter einer Bank predigte ein hagerer Mann in breiter Hose und weitem Hemd den Möwen. Um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, warf er ihnen ab und zu etwas Weißbrot hin. Fjodor sah seine dattelfarbenen dünnen Knöchel und dachte, auch er wäre vielleicht eine aus dem Met entlaufene Plastik. Der Prediger wandte seinen von einer grünen Strickmütze bedeckten Nacken den Möwen zu und sein Hutzeldattelgesicht zu Fjodor. Was er sprach, war nicht das Englisch, das Fjodor als Kind gelernt hatte ( I said, »How do you do?« and gave her the flowers that I had bought for her. She said: »Oh, thank you. What beautiful roses! How kind of you to bring me them.« ). Bei dem Möwenerlöser konnte er nur »ain’t gonna gotta wanna dunno« wahrnehmen. Der Ain’t-gonna-gotta-wanna-dunno-Mann brach einen Happen vom Laib ab, streckte die gebende Hand freundlich Fjodor entgegen und sprach weiter. Fjodor nahm das Brot und überlegte, ob er etwas für den Ain’t-gonna-gotta-wanna-dunno-Mann hätte. In seinen Taschen gab es mehrere Eindollarscheine, für die Penner, für die Gepäckträger in Hotels und für den Fall, er würde von jemandem auf der Straße nachdrücklich um etwas Geld gebeten. Aber ob das für den Möwenprediger passte? Der Prediger schüttelte den Kopf, als könnte er Fjodors Gedanken lesen, und sagte: Auch du wirst gerettet, mein kleiner Bruder. Das wird nicht so einfach sein wie mit den Möwen, aber ich werde für dich ein gutes Wort einlegen vor dem Herrn, du brauchst keine Angst zu haben. Das konnte Fjodor nicht verstehen, nur diverse »gonna-wanna’s«, aber er antwortete, auf Russisch, am Ain’t-gonna-gotta-wanna-dunno-Mann vorbei schauend auf die Freiheitsstatue, hinter der sich ein Einwanderermuseum befinden sollte: Ich mag mein Land und meine Landsleute nicht besonders, ich mag dein Land und deine Landsleute nicht besonders, ich habe viele Länder und Völker gesehen, ich mag sie alle nicht besonders. Alle hassen einander, alle sind neidisch und selfish (Fjodor stockte und ersetzte »selfish« durch »selbstsüchtig«). Der Ain’t-gonna-gotta-wanna-dunno-Mann sagte: Das macht aber nichts, du wirst gerettet, die Möwen werden gerettet, die deinen und die meinen Leute werden gerettet, denn ich werde ein gutes Wort für sie einlegen vor dem Herrn. In diesem Moment fiel Fjodor ein, dass es in Petersburg für Natascha gerade die Zeit war, mit Mascha vom Baby-Schwimmen nach Hause zu kommen (wenn er den Zeitunterschied in die richtige Richtung berechnet hatte). Ob Natascha unterwegs etwas passiert war, Gott bewahre, dachte er, nahm sein Taschentelefon aus der Tasche und tippte, sich vom Fluss und seinem Propheten entfernend, eine SMS (gestern hatte er sie endlich erreicht: »Was ist passiert?« – »Nichts.« – »Was wolltest du sagen, warum sollte ich anrufen?« – »Ach das, ja, ich hatte sagen wollen, dass ich dich vermisse.« / Das war’s? , wollte er sagen. Deswegen musste ich mir die ganze Zeit Sorgen machen? Aber er hatte das nicht gesagt, denn was wichtiger war als das, er hörte es gern, und sie konnte nichts dafür, dass er ein Neurotiker war).
Als Fjodor nicht mehr zu sehen und zu hören war, machte der Ain’t-gonna-gotta-wanna-dunno-Mann den Möwen ein Zeichen mit plötzlich spitzbübisch gewordenen Augen, und es stellte sich heraus, dass sie gar keine Möwen, sondern die Met-Ägypter waren. Erleichtert nahmen sie ihre gewohnten Formen an und setzten ihre Wege fort, getarnt durch die endlich ausgebreitete Nacht.
SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN / WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
Marina, John, Victor und Miriam saßen auf den Bisonfellen in einem Wigwam. Von draußen stieß die Unendlichkeit von Wäldern und Prärien, Bergen und Seen und Schneeweiten an die Wigwam-Wände. Marina musste in vier Stunden nach Hause (das hieß seltsamerweise Frankfurt, während ihr Berliner Mann, Andreas, öfter in Petersburg war und ein Buch über Petersburger Deutsche schrieb). John musste zur selben Zeit nach New York, um Fjodor dort zum Flughafen zu bringen und nach Hause (Petersburg) zu schicken. Marina dachte, dass sie Fjodor sowieso bald sehen würde, in Petersburg. Vielleicht würde sie auch Andreas helfen, in den Rumpelkammern in Fjodors Wohnung nach deutschen Spuren zu suchen (für das Buch). Fjodor hatte gesagt, er sei selbst gespannt, was sie finden würden, wenn überhaupt. Als Deutsche wurden seine
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