Mörikes Schlüsselbein
verstaubten Tadschiken-Sagen über Schneemenschen hören. Ein guter Grund, mir meinen ersten Ferientag kaputt zu machen.
Aber es gab einen anderen Grund, der in einem für die geheimsten Angelegenheiten vorgesehenen Konferenzraum mit runden himbeerroten Wänden bekannt gegeben wurde. John und die anderen saßen an einem hufeisenförmigen Tisch mit Erfrischungsinseln: Tee, Kaffee, Cola, Wasser, Kekse.
Wie alt alle hier geworden waren. Seine »Kollegen« traf er so selten, dass er sich nicht sicher war, ob sie sich so verändert hatten oder neu waren. Ist dieser Dörrfisch in Chanel das Mädchen mit dem unvergesslichen schnellen Lächeln, mit dem er vor 30 Jahren eine Woche in Soho verbracht hatte? Sie hatte gekifft und ihm chinesische Gedichte vorgelesen, die sie gerade übersetzt hatte: Im stillen Bach wasche ich von meinem Ohr die eitlen weltlichen Klänge ab. Der Wind versteckt sich in den Föhrennadeln. (Jennifer? Du?) Dann hatte man ihnen zu verstehen gegeben, engere Beziehungen unter »Kollegen« seien unerwünscht. Der Colonel: Sein Gesicht war wie eine Winterlandschaft, die man früher als Sommerwiese gekannt hatte: vertraut, aber unzugänglich. Ihn hatte John noch als Leutnant gekannt. Und Mr. White war einst ein Junge gewesen, der ausschließlich aus weißen Zähnen und schwarzen Wimpern zu bestehen schien. Die Zähne waren zwar immer noch weiß, die Wimpern lang und die Augen sehnsüchtig, aber er hatte unebene Wangen, eine schiefe Nase und ein schwammiges Kinn dazubekommen. In einer Thermos-Kaffeekanne sah John sein eigenes Gesicht: ein noch nicht so alter Woody Allen, nur ohne Brille, eine traurige rothaarige Teekanne.
»Meine Damen und Herren. Wir suchen Freiwillige. Für eine Reise. Kann riskant werden. Mr. White wird Sie kurz mit dem technischen Aspekt der Sache vertraut machen.«
Der technische Aspekt sah so aus, dass man gewisse physikalische (teilweise auch chemische) Eigenschaften der Zeit und des Raumes nutzte, um eine Person von einem Punkt an einen anderen zu transportieren. Da es nichts mit Teleportation bzw. Transmission zu tun habe, die man aus science fiction kenne, sei das psychisch und physisch völlig unbedenklich. Die Klippe war nur, dass man es nur in eine Richtung machen konnte, dazu war noch nicht ganz klar, in welche. Doch, in groben Zügen schon. »Daher wählen wir relativ sichere Gegenden aus, die großflächig genug sind, dass wir uns einen kleinen Fehler leisten können, also dass er nicht fatal wird. Bei der Auswahl haben wir Ihre philologischen Kompetenzen berücksichtigt, ich meine, welche Sprachen Sie beherrschen.
Also, von dort, wo Sie landen, zurückzukehren, ist generell Ihre Sache. In den Überlebenswesten und -gürteln werden Sie alles Nötige finden. Medizin, eingeschweißte Wassertüten, Wassertabletten, Notrationen, Reisepässe, Geld, Messer, Telefone (Botschafternummern sind unter üblicher Kodierung gespeichert), Draht, Magnesiumstarter undsoweiter. Der Stoff der Westen ist übrigens modifiziert. Drei Schichten: Kälte/Wärmeschutz, wasserdicht und feuerlöschend (das ist die neueste Erfindung). Schusswaffe haben Sie nur für den worst case bei der Landung, andernfalls muss sie sofort entladen, zerlegt und entsorgt werden. Sonst wie immer. Survivalzeug. Ms. Brown wird Ihnen alles detailliert zeigen. (Ms. Brown kannte John nicht. Sie war so jung, dass er kaum die Chance hatte, sie irgendwann alt geworden zu erleben. Und so rund, dass der rundlich gewordene Mr. White neben ihr schlank wirkte.) Wir prüfen altersstufenweise, jetzt ist die Gruppe 45 bis 54 dran. Wer sich meldet, wird bei seinem Arbeitsplatz beurlaubt, jeweils mit plausibler Legende. Ja, die Legenden vor Ort sind ebenso Ihre Sache, je nachdem. Ein paar Musterstorys wird Ihnen Ms. Brown präsentieren. Das ist das eigentliche Risiko, der Landungsort, denn das Wichtigste ist gesichert: Wie gesagt, die transportierten Lebewesen nehmen keinerlei körperlichen oder psychischen Schaden. Die Transportkapsel ist nach der Landung zusammenfaltbar und als solche nicht weiter erkennbar, auch funktionsunfähig. Sie kann weggeworfen bzw. als Decke benutzt werden. Ansonsten schnellstmöglich unsere Botschaft ausfindig machen, dort die Papiere entsprechend den jeweiligen Landesgesetzen in Ordnung bringen, und ab zum Flughafen. Geheimhaltung hat höchste Priorität. Über die Legenden für unsere Botschaften bzw. Konsulate werden Sie noch unterrichtet. Fragen?«
»Colonel, gibt es Kollegen, die in solcher Mission
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