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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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das Hochwasser in der benachbarten Republik war zurückgegangen.
    5. ENDE
    Im Konsulat bekam John den Pass, aus dem man ersehen konnte, dass er vor einem Monat ganz normal eingereist war, und ein Flugticket nach Hause. »Nein«, sagte er, »ich muss noch nach St. Petersburg. Ein Freund von mir ist gestorben. Ich muss seine Witwe besuchen. Sein Grab sehen.« Aha , dachte der Konsul, das ist noch eine Legende, er darf uns natürlich nichts verraten, und je weniger wir wissen, desto besser ist es für uns alle, und sie gaben John ein anderes Ticket und andere Papiere. Im Flughafen sah John den alt gewordenen Major, der den auch nicht jünger gewordenen John zum Glück nicht erkannte.

    ♦

PETERSBURG
    1.
    Nicht nur Hunde werden ihren Herrchen mit der Zeit ähnlich, auch Koffer beginnen ihren Inhabern zu ähneln. Tonja hatte einen tadellos sauberen, schmalen Trolley in der Farbe von englischem Silber (hell), und Pawel einen Reiselord und einen unhandlichen Koffer mit französischsilberfarben beschlagenen Ecken (dunkel), wie sie Weltreisende hatten, als Gepäckträger noch zum Alltagsbild gehörten und die Lokomotive ein Wunder des Fortschritts war. Marina hatte ihre Umhängetasche, die sie sehr praktisch fand. »Warte nur noch ein paar Jahre«, pflegte Andreas zu sagen, beleidigt, dass sie den von ihm geschenkten Trolley nie mitnahm, »das Gewicht deines Mantelsackes wird dir bald zu schwer.« Sie warteten, bis die Gepäckausgabe (vergrößertes Modell einer Sushibar) ihr Gepäck ausgab.
    Kein Taxifahrer ist ein Radio. Auch dieser war es nicht. Man konnte ihn weder ausschalten noch den Sender wählen und war, auch ohne zuzuhören, den Schlüsselwörtern ausgeliefert: Hitze, weg-mit-Putin, Stau, Pappelsamen, man-ist-als-Russe-im-eigenen-Land-nicht-mehr-sicher, Scheißstraßenpolizei, wir-lebenwie-in-Paris-überall-sind-die-Schwarzen. Tonja schloss ihre Ballerina-Augen. Pawel, glücklich, wieder zu Hause zu sein, vergewisserte sich, dass draußen tatsächlich Petersburg war, wenn auch fleckenweise von den flauschigen Pappelsamen zugedeckt. Er schaute nach links, nach rechts und wieder nach links und beachtete das aufgeschlagene Buch auf seinem Schoß nicht. Marina fragte sich, ob Petersburg ohne Fjodor immer noch dieselbe Stadt war. Wohl nicht.
    Sie fuhren am Schwanenkanal vorbei, einem künstlichen Bach, in dem Lisa aus der »Pique Dame« ihren Tod gefunden hatte. Zwei Schwäne tauchten ihre kleinen rotnasigen Köpfe in das schwarze Amalgam ein und hoben sie wieder, spiegeltrunken. Hinter dem Schwanenbach war der »Sommergarten« mit dem Dunkelgrün seiner Bäume und dem kühlen Weiß seiner Skulpturen, der hierher gezwungenen altgriechischen Helden und Gottheiten. Dank ihnen ging es Marina so, als wäre sie nicht in einer sowjetischen Stadt aufgewachsen, sondern am Ägäischen Meer. Die Wölbung der Schwanenbrücke: nach oben/nach unten – wie ein Luftloch im Flugzeug. Es war für sie als Kind ein Augenblick der Freude, nach den Sommerferien vom Bahnhof im Taxi über diese Brücke zu fahren wie durch die Schwerelosigkeit. Auch ohne Fjodor war diese Sekunde der Schwerelosigkeit das Glück, was sie mit einem Anflug von Reue merkte. Sie war ein Jahr nicht hier gewesen. Seit kurz vor Fjodors Tod. Tonja öffnete die Augen, Pawel klappte das Buch zu und der Taxifahrer fluchte über die Wölbung.
    Der Türsteher stand an seinem gewohnten Platz, seit im Erdgeschoss eine Firma ihr Büro eröffnet hatte, die irgendein psychologisches Training nach einer neuen Methode anbot. Die Werbeblätter auf Büttenpapier in den vergoldeten Ständern konnte ein Interessierter erst bekommen, wenn ihn der Türsteher ins Treppenhaus ließ. Der Text war so rätselhaft, dass alle irgendeinen Schwindel und Geldwäsche dahinter vermuteten:
    »Sie wissen es selbst: es gibt Menschen, die Ihnen den ganzen Tag, wenn nicht das ganze Leben verderben können: Mund- und Schweißgeruch, alberne Witze, unmögliche Farben und Schnitte ihrer Kleidung. Oder noch Schlimmeres. Sie können die Liste selbst fortsetzen. Diese Situation ist inakzeptabel, man muss etwas dagegen tun. Aber was? Es liegt an IHNEN! Lernen Sie, Ihren Nächsten zu akzeptieren. Wir bieten Ihnen ein Training, das Ihnen helfen wird, Ihre Antipathien und Aversionen zu überwinden. Endlich! Diskret und zuverlässig. Überzeugen Sie sich selbst: Sie werden ein glücklicherer Mensch!«
    Zu diesen Trainings kamen gutaussehende Menschen, denen der Türsteher die Tür öffnete. Seit er da war, war

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