Möwenfluch (Vloek op Meeuwen) (Möwennest) (German Edition)
Eine Sekunde zuvor war er noch voller Energie gewesen, jetzt fühlte er sich kraftlos und verbraucht.
Was geschieht hier zum Teufel?
„Ich weiß nicht, was hier läuft“, krächzte er und musste seine Hände dabei auf die Oberschenkel stützen, um nicht umzufallen, „aber irgendwas stimmt mit dem Kerl nicht. Irgendwas stimmt nicht.“
Ari stand unterdessen da wie versteinert, sein Gesicht wirkte weinerlich und verwirrt. Man konnte den Eindruck gewinnen, er sei ein großes Kind, das sich in einem dunklen Wald verlaufen hatte und allein nicht wieder hinaus fand. Vermutlich war er so tief verirrt, dass auch niemand jemals mehr jemand käme um ihn wieder hinauszuführen. Selbst Inga Heemstedde traute Harry das nicht zu. Dann fing Ari Sklaaten von jetzt auf gleich an zu schluchzen, sank zu Boden und weinte.
„Tut mir leid, so leid, so leid“, wimmerte er immer wieder.
„Ist schon gut, Ari“, beruhigte Inga, ging zu ihm hin und strich ihm sanft über die verfilzten Haarsträhnen.
„Es ist bei dir im Haus, Harry“, brachte Sklaaten irgendwo zwischen Schluchzern und „Tut mir leid“ hervor, aber das war keine neue Information und half nicht wirklich. Was bei Harry in der Wohnung war und wo genau es sich befand, behielt er auch weiterhin für sich und verriet es nicht.
Wenn sie ein wenig Glück gehabt hätten und er noch länger in diesem Zustand hilfloser Verlorenheit verbracht hätte, wäre er möglicherweise bereit gewesen, ihnen mehr verraten, aber sie hatten das Glück in dieser Nacht nicht auf ihrer Seite. Schon im nächsten Moment kippte Ari Sklaatens verwirrtes Bewusstsein in eine völlig andere Rolle.
Er riss Ingas Hand weg, schubste die alte Frau von sich und sprang entsetzt auf, die Augen gefüllt mit Wahnsinn. Es war der Wahnsinn, den Harry bereits vor drei Nächten in seinen Blicken gesehen hatte.
„Du“, brüllte Ari Sklaaten . „Du bist es.“
Inga wankte zwei Schritte zurück, bevor sie sich fing, und bewahrte dann in bewundernswerter Weise die Ruhe.
„Ich bin was, Ari?“ fragte sie ruhig und machte schon wieder einen Schritt nach vorn.
„Du bist Es!“ wiederholte der Tobende nur, schnappte sich das Messer auf der Spüle und wedelte damit drohend durch die Luft.
Vermutlich konnte er sich nicht entscheiden, ob er angreifen oder weglaufen sollte, denn er blieb Sekunden in dieser Haltung, sprang einen Schritt vor und wich hastig wieder zurück. Dann traf er endlich eine Entscheidung, wenn man es denn so nennen konnte.
„Du! Bleib mir vom Leib, Hexe! Hast sie hergeführt! Verräterin!“ brüllte er. Es folgte ein Schrei, wie Harry selten einen Menschen hatte schreien hören, dann sprang Ari Sklaaten zur Hintertür, drehte den steckenden Schlüssel im Schloss, riss sie auf und verschwand heulend und zeternd in der Nacht.
Harry war drauf und dran ihm nachzujagen, aber Inga hielt ihn zurück.
„Lass ihn nur, Harry“, sagte sie matt und setzte sich. „Das hat jetzt keinen Sinn. Ich fürchte, er ist zu lange alleine dort draußen in seinem Restaurant gewesen. Er ist nicht mehr derselbe. Ich habe ihn zu lange nicht mehr gesehen. Es ist ungewiss, ob er gerettet werden kann. In ihm ist kaum noch Leben.“ Inga schüttelte traurig den Kopf, auch wenn in ihren Augen so etwas wie zornige Entschlossenheit funkelte. „Sie hat ihn gebrochen, obwohl sie all die Jahre eingesperrt war, hat sie ihn langsam zerstört. Armer Ari. Verflixt noch mal! Hätte ich doch nur früher reagiert.“
Sie rieb sich die Augen und machte auf einmal einen sehr müden Eindruck.
„Ich hatte die Hoffnung, er würde uns verraten, was er herausgefunden hat und ich bin mir sicher, dass tief in seinem Innern die Lösung steckt. Die Information, vor der sie sich fürchtet. Er wusste, dass sie irgendwann in seinen Geist einbrechen würde, um es zu finden, also hat er es tief in sich vergraben, damit sie nicht daran kommt. Er hat einen hohen Preis dafür bezahlt.“
Inga hielt inne und blickte auf den Fußboden. Ein schwirrender Schatten zeichneten sich darauf ab. Eine Motte hatte sich in die Küche verirrt und umkreiste unruhig die einzige Lichtquelle im Raum. Harry verfolgte sie mit seinen Blicken. Jedes Mal wenn das Insekt der Glühlbirne zu nahe kam, flatterte es wild umher, beschleunigte und näherte sich schließlich doch wieder der heißen Lampe. Ihm fiel dazu eine kurze Geschichte ein, die er einmal in der Schule im Englischunterricht gehört hatte. Darin ging es um eine Motte, die sich weigert, wie alle
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