Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
kalt, dass Harry förmlich spüren konnte, wie die Raumtemperatur abnahm und sich rapide dem Gefrierpunkt näherte. Seine Nackenhaare stellten sich auf.
„ Gut … Wir machen es so: Ich gebe dir fünf Minuten, um mir zu erklären, was vorgefallen ist. Wenn du mich dann nicht von deiner Version der Dinge überzeugt hast … Tja, du weißt ja, wie die Dinge laufen“, entschied Petr Stojic, nahm das Schnapsglas vom Schachbrett und setzte es ein Feld nach vorn.
„Die Zeit läuft, Harry. Du bist am Zug.“
Harry starrte Petr an, dann auf das Brett und erneut ins Gesicht seines Gegenübers. Der saß ausdruckslos in seinem Sessel, die Hände in seinem Schoß zusammengelegt und wartete.
Nur fünf Minuten räumte sein Chef ihm ein, um etwas zu erklären, für das es keine Erklärung gab. Es war schlicht unmöglich und es wurde immer unmöglicher. Denn jede Sekunde, in der Harry schwieg, ging von seiner Zeit ab. Zum ersten Mal seit Stunde n spürte Harry sein Herz schlagen, wenngleich dem nur so war, weil es, der ausbrechenden Panik wegen, heftig in seiner Brust pochte. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Die Zeit rannte davon.
„Dein Zug“, wiederholte Petr Stojic und machte eine ermutigende Geste in Richtung des Schachspiels, das zwischen ihnen stand. Harry spürte den Druck. Das war nicht schwer, denn er war in den letzten Augenblicken immens angewachsen und nahezu erdrückend geworden. Unter diesen Umständen konnte er nicht klar denken. Bilder, Erinnerungen und wirre Gedanken schossen durch seinen Kopf. Die meisten beschäftigten sich mit der Frage, was passieren würde, wenn er Stojic nicht würde vom wahren Hergang der Geschichte überzeugen können.
Dann bist du tot , schalt er sich stumm und das half etwas.
Zitternd beugte er sich über das Brett , ergriff wahllos einen Bauern und zog ihn zwei Felder in Richtung der gegnerischen Linien.
Die Gedank en rasten weiterhin, aber sie ordneten sich allmählich. Und während Petr mit flinken Fingern einen Läufer Diagonal bis an den Spielfeldrand in der Mitte zog, bekam Harry endlich ein Gesicht vor seinem inneren Auge zu fassen und dazu fiel ihm gleich der passende Name ein.
Sem.
Mit diesem Namen kam alles hoch. Mit Sem hatte die ganze Geschichte angefangen. Es war seine Schuld gewesen, dass Harry in diesen Schlamassel überhaupt hineingeraten war. Mit vorgehaltener Pistole hatte dieser Dreckskerl ihn gezwungen, in das verfluchte Gebäude einzusteigen, um nach Ari Sklaaten und seinen geheimen Schätzen zu suchen.
Sem .
Nur wegen ihm hatte er einen seiner Zehen verloren und beinahe sein Leben. Was hieß: beinah e? Er hatte sein Leben verloren. Nichts war mehr wie vorher gewesen, nachdem er aufgetaucht war.
Sem!
Plötzlich aufs chäumende Wut bahnte sich ihren Weg bis in seinen Kopf. Harry wurde heiß und kalt.
Sem!
„Statt vor dich hinzumurmeln, solltest du lieber Klartext reden. Du hast noch drei Minuten dreißig und bist abermals dran“, bemerkte Petr ruhig, konnte seine wachsende Ungeduld jedoch nur schwer verbergen.
Geistesabwesend schob Harry den zuvor benutzten Bauern ein weiteres Feld vorwärts. Postwendend zog Petr seine Dame diagonal auf die dem bereits in Position gebrachten Läufer gegenüberliegende Seite. Es brauchte ein paar Sekunden, ehe Harry die richtigen Worte gefunden hatte.
„Sem“, sagte er dann deutlich und begann in kurzen, abgehackten Sätzen zu berichten. Dazwischen versuchte er irgendwie dem drängenden Blick, der i hm entgegenstach, gerecht zu werden und führte einen Springer ins Feld.
„Wo ist der Kerl jetzt?“, fragte Petr Stojic und schlug mit dem Läufer Harrys voreilig vorangepreschten Bauern.
„Tod. Er … D er Seegang hat ihm das Genick gebrochen“, erwiderte Harry und stellte Stojics Figuren einen weiteren Bauern entgegen. Der fackelte nicht lange, beseitigte das entstandene Hindernis und sagte: „Er ist also tot. Wo hat man seine Leiche hingebracht?“
„Wurde wohl vom Meer verschluckt“, murmelte Harry und ahnte Böses. Er konnte Petr das Blaue vom Himmel herunter erzählen. Am Ende kam es darauf an, was sich beweisen ließ. Und in diesem Fall wusste er nicht einmal den Nachnamen des Schuldigen. Sems Leiche war über Bord gegangen und in den Fluten verschwunden. Minuten später war das Gebäude eingestürzt. Gut möglich, dass Sem ein nasses Grab unter Tonnen von Holz und Stahl gefunden hatte. Zu sehr mit diesem Problem beschäftigt, setzte er planlos einen weiteren Springer über die kleiner
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