Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
Ich habe schon gedacht, wir bekommen Probleme miteinander, Harry. Also, wo war ich eben stehen geblieben. Ah ja. Stojic hat es aufgegeben, nach Sklaaten zu suchen. Ich aber glaube, dass er noch dort ist und wir beide wissen, warum das so ist. Nicht wahr?“
Harry sah auf und schaute seinem Gegenüber in die Augen. Erst jetzt bemerkte er die ungewöhnliche dunkelgraue Färbung der Pupillen.
Eiskalt , schoss es ihm durch den Kopf.
„Du meinst die Gerüchte? Den Spuk?“ fragte er dann abfällig, statt zu antworten. Das vermochte Sem allerdings nicht aus der Fassung zu bringen.
„Ganz genau! Siehst du, Harry, es ist so: Wenn Leute in der Dunkelheit in einem verlassenen Gebäude Licht sehen, dann deutet das darauf hin, dass dort jemand ist. Und wenn Menschen behaupten, sie hätten jemanden in der Dämmerung auf dem Steg herumlaufen gesehen, dann wird das wohl kaum bloße Einbildung gewesen sein oder?“
„Menschen sehen vieles, wenn sie Angst haben. Meist viel mehr, als wirklich zu sehen war. Und in der Nacht geht ohnehin bei fast allen die Fantasie durch“, entgegnete Harry, während ihm Blut von der linken Augenbraue auf sein nasses Hawaiihemd tropfte.
Sem ließ sich von Harrys abfälligem Gerede nicht beirren und fragte ungerührt: „Wann hast du die letzte Meldung wegen einer Aktivität im Restaurant oder auf dem Steg abgefangen?“
Harry überlegte und kam schnell zu einer Antwort. Das war noch gar nicht so lange her.
„Vor drei Wochen. Anfang Juni rief eine Frau den Nachtdienst der Küstenwache an. Sie behauptete, dass eine Gestalt auf das Flachdach des Gebäudes geklettert sei. Angeblich ist sie in einem auseinanderstäubenden Schwarm fliehender Möwen verschwunden. Die Frau war ziemlich verängstigt, hatte aber keine weiteren Zeugen für ihre Behauptung. Beamte der Küstenwache haben sie dann beruhigt, allerdings keine weitere Recherchen angestellt. Keine Patrouille, keine Kontrollfahrt. Die sind es mittlerweile gewohnt, dass einige Leute rund um das mysteriöse Gebäude Dinge sehen, die nicht existieren. Die Beamten sind froh, wenn der Abrissbeschluss des Gemeinderates in diesem Jahr noch durchkommt. Nur wird das nicht passieren. Sklaaten hat rechtlich erwirkt, dass das Gebäude, die Sandbank und der Steg nicht angerührt werden dürfen. Mit einer Menge Geld hat er sich das Recht erkauft, dass alles so lange stehen bleibt, bis das Meer es sich zurückholt. Het Meeuwennest war sein großer Traum. Er hat nicht zugelassen, dass ihm das irgendjemand zerstört. Am Ende war es wohl eher sein persönlicher Albtraum. Nun ja, wo ist da schon der Unterschied?“
Harry seufzte. Er hatte so viel über diese ganze Geschichte herausgefunden und gesammelt. Für ihn war es schwer nicht darüber zu reden, selbst mit dem Mann, der ihn im eigenen Haus gefesselt und mit einer Waffe bedroht hatte.
„Vor drei Wochen also. Das ist nicht so lange her, wie ich gedacht habe. In Rotterdam hat mir der Kerl in der Kneipe erzählt, du hättest vor knapp einem Jahr das letzte Mal einen Bericht an Stojic darüber abgeliefert, was sich in und um das Restaurant ereignet hat.“
Harry nickte.
„Die waren es leid, dass ich mich jedes Mal wegen unbedeutendem Mist gemeldet habe. Seitdem liefere ich jedes Jahr einen Bericht mit allem, was in zwölf Monaten hier unten passiert ist.“
„Umso besser. Weißt du, Harry, du bist kein übler Kerl und ich werde dir jetzt sagen, wieso das hier alles etwas unorthodox abläuft. Ari Sklaaten ist mit über einer Millionen Euro verschwunden und das nicht allein in Form von Scheinen. Er hat auch einige wertvolle Schmuckstücke mitgehen lassen, die Stojics Dealer als Pfand bei ihm hinterlegt hatte. Sollen auch ein paar sehr alte Erbstücke darunter gewesen sein. Außerdem war Ari Sklaaten selbst kein armer Schlucker. Es heißt, sein Vermögen habe sich - vor der Euroeinführung - auf gut zwei Millionen Gulden belaufen. Das wiederum heißt, es ist gut möglich, dass sich dieser bescheuerte Koch in das beschissene Vogelhaus zurückgezogen hat und nur darauf wartet, dass er irgendwann wieder daraus hervorkriechen kann.“
„Das ist doch albern“, unterbrach Harry ihn. Er ärgerte sich darüber, dass Sem scheinbar nichts weiter als ein rücksichtsloser Schatzsucher war, dem jedes Mittel recht war, um an ein Vermögen zu kommen, das - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - nicht mehr dort war, wo der Kerl es vermutete.
„Die Polizei war zuletzt vor fünf Jahren in dem Haus. Die
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