Möwenspur
Marie noch
zur Kontrolluntersuchung begleiten und danach wäre ich
frei. Wir könnten uns vielleicht schon zu einem kleinen
Aperitif, so gegen 17 Uhr im Café Finistère treffen, was
hältst Du davon?“
Ewen sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass es
erst 15 Uhr war. Er hatte noch über eineinhalb Stunden
Zeit bis dorthin. Das musste für heute genügen.
„Finde ich eine wunderbare Idee mein Schatz, wir sehen
uns um fünf im Café Finistère. Alles Gute für die Untersuchung, ich bin mir sicher, das alles Okay ist mit Marie.“
„Ich denke auch, sie kommt langsam über alles hinweg.“
Ewen legte auf.
Er hatte Carla vor wenigen Wochen kennengelernt, als er
im Café Finistère einen Espresso genossen hatte. Sie saß
mit ihrer erwachsenen Tochter Marie, die seiner Schätzung nach etwa vierundzwanzig Jahre alt war, am Nachbartisch. Die beiden unterhielten sich über die Chagall
Ausstellung im Kunstmuseum, das gleich neben dem
Café lag.
Auch Ewen hatte
sich
diese
Ausstellung
angesehen,
schließlich war eine solche Ausstellung ein Ereignis für
Quimper. Die Stadt mit ihren knapp 80 000 Einwohnern
war zwar Sitz der Verwaltung des Departements, hatte
ein Theater, eine neue Mediathek, Kinos, aber kulturell
gehörte sie nicht zur Spitze Frankreichs.
Die Frau gefiel ihm ausgesprochen gut. Als er ihre Tochter sagen hörte, dass die Ausstellung bestimmt auch Papi
gefallen hätte, wenn er noch leben würde, ging Ewen
davon aus, dass die Frau vielleicht genauso alleine lebte
wie er. Er hatte nicht lange überlegt und sie mit einem
Kommentar zur Ausstellung angesprochen. Ganz schnell
entwickelte sich daraus eine Konversation, die Ewen mit
einer Einladung zum Essen beendete. Völlig entspannt
hatte er ihr gesagt, dass sie ihm sehr gut gefalle und er
glücklich wäre, ihre nähere Bekanntschaft zu machen.
Ewen hatte auch bei Carla einen sympathischen Eindruck hinterlassen und so nahm sie die Einladung gerne
an.
Ewen
schlug
für
den
Abend
das
Restaurant
Ambroisie vor. Carla war einverstanden und so wollten
sie sich dort treffen. Das Restaurant war als gute Adresse
in Quimper bekannt.
Schon bald stand für beide fest, dass sie sich einen gemeinsamen Lebensweg vorstellen könnten.
Carla hatte Ewen viel von ihrer Tochter Marie erzählt,
die seit wenigen Tagen fünfundzwanzig Jahre alt war
und die über einige Traumata hinwegkommen musste.
Nicht nur über den Tod ihres Vaters, der bei einem Verkehrsunfall gestorben war, sondern auch über eine Vergewaltigung, die vor drei Jahren stattgefunden hatte.
Damals war Marie mit ihrer besten Freundin zu einem
Segeltörn aufgebrochen. Ihrer Freundin Sylvie Nicot und
vier Männern aus ihrem Bekanntenkreis stand für drei
Tage eine große Segelyacht zur Verfügung und sie wollten damit an der Küste entlang segeln. Während der ersten Tage war alles sehr schön und harmonisch verlaufen. Am Abend vor ihrer Rückkehr hatten die Männer
ziemlich viel getrunken und waren immer aufdringlicher
geworden. Als die Mädchen sie abwiesen, waren sie über
sie hergefallen und hatten beide mehrmals vergewaltigt.
Nach der Rückkehr verschwanden die vier Männer sofort. Marie kannte lediglich ihre Vornamen. Die Yacht
gehörte einem bekannten von Sylvie, aber Marie hatte
sich nicht einmal den Namen der Yacht gemerkt. Nur
Sylvie kannte die Yacht, den Besitzer und die Männer.
Da auch Sylvie nach der Rückkehr sofort verschwunden
war und man sie erst fand, nachdem sie sich das Leben
genommen hatte, blieben die Täter bis heute unbestraft.
Die Anzeige, die damals gegen Unbekannt aufgegeben
wurde, musste eingestellt werden.
Marie begann, mit der Unterstützung ihrer Eltern eine
psychologische Therapie.
Für Ewen war das Zusammentreffen mit Carla wie ein
vom Schicksal gewolltes Arrangement. Seine Frau war,
wie auch Carlas Mann bei einem Verkehrsunfall gestorben. Ewen sah in Carla ein Geschenk des Himmels. Sie
trafen sich nun regelmäßig und vor einigen Tagen hatten
sie sich entschlossen zusammenzuziehen.
Ewen Kerber bewohnte ein sehr großes Haus, das er von
seinen Eltern geerbt hatte. Carla lebte mit ihrer Tochter
in einer Mietwohnung.
Carla Rozier arbeitete als Abteilungsleiterin in der Filiale
der BNP Paribas in Quimper. Ihre Tochter war seit einem Jahr als Kindergärtnerin tätig.
Die Arbeit mit den Kindern hatte Marie geholfen über
die Vergewaltigung hinweg zu kommen. Vor zwei Wochen war Marie zu ihrer Mutter gekommen und hatte ihr
gesagt, dass sie sich eine eigene Wohnung nehmen
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