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Mogelpackung: Roman

Mogelpackung: Roman

Titel: Mogelpackung: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Schröter
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der Arbeit kommt?« Fredo wies schmunzelnd an sich hinab. »Jetzt lernst du was über Illusionskunst, Junge. Mein täglich Brot. Figuren erfinden, Dialoge schnitzen, mit Klischees spielen, glaubhaft bleiben!« Einen winzigen Moment lang beschlich Fredo das Gefühl, vielleicht eine Nummer zu dick aufgetragen zu haben, aber dieser Hauch eines Selbstzweifels löste sich sofort auf, als er sah, wie Tim ihn musterte. Staunend. Ja, vermutlich sogar mit einer Spur Bewunderung im Blick. Fredo wollte schon aus dem Zimmer eilen, da fiel ihm noch etwas ein. »Vielleicht gibst du mir noch ein paar Infos zur zweiten Figur im Spiel. Bisher weiß ich ja nur, dass deine Lehrerin Frau Anatol heißt und eine tolle Telefonstimme hat. Kräftig, aber melodisch. In den Obertönen ein wenig angerauht. Sexy. Wie alt ungefähr?«
    »Scheintot. Über dreißig.«
    »Verheiratet? Dick? Dünn? Hysterisch? Unfair? Schnell sauer? Dickes Fell? Lange Leitung?«
    »Verheiratet glaub ich nicht. Nicht dick, nicht dünn – normal. Unfair eigentlich nicht. Dreht trotzdem manchmal ganz schön am Rad. Aber das machen sie ja alle. Unterrichtet Englisch und Erdkunde. Vorname Helena. Mehr weiß ich nicht.«
    »Na ja. Improvisation ist die halbe Miete. Im Studio wie im Leben. Bis gleich.« Fredo zwinkerte seinem Neffen aufmunternd zu und eilte hinaus.
    Tim sah ihm nach und verspürte ein dumpfes Ziehen in der Magengrube. Vielleicht wusste Onkel Fredo ja tatsächlich, was er tat. Leider war sich Tim da nicht sehr sicher.

    Gesche strich mit dem Kamm langsam durch ihre weißgrauen Haare. Die Frisur schmiegte sich in sanften, akkuraten Wellen um ihr Gesicht. Volle Haare, immer noch. Früher waren sie blond gewesen. Als Mädchen hatte sie diese Pracht zum Zopf geflochten getragen. Mit ihrer Schwester Imke lag sie ständig im Wettstreit um den längeren Schopf. Ihr kleiner Bruder Claus zog gerne daran, um die Schwestern zu ärgern. Dafür hatten sie ihn mehr als ein Mal verkloppt, aber er tat es immer wieder. Gesche ärgerte es plötzlich, dass Claus schon so lange nicht mehr bei ihr angerufen hatte. Vielleicht bräuchte er mal wieder anständig ein paar hinter die Löffel. Dann beschlich sie die dumpfe Ahnung, dass es für die brüderliche Funkstille einen guten Grund gab, und nach einer Minute quälenden Grübelns kam sie darauf: Claus war tot. Schon lange, ein paar Jahre mindestens.
    Das hatte sie vergessen. Imke liegt auch längst unter der Erde, genau wie mein Friedrich. Mechanisch zog Gesche den Kamm durchs Haar, ein ums andere Mal. Nach dem Tod wuchsen die Haare noch ein bisschen weiter, hatte sie irgendwo gelesen. Gruselig, fand Gesche. Das funktionierte noch, während sich der Rest schon verabschiedet hat. Wie bei ihr. Im hohen Wandspiegel sah ihr Bild scheinbar aus wie immer. Andere Menschen wurden im Alter krumm und klapprig, waren aber im Kopf voll da. Bei ihr schien es andersrum zu laufen. Den Braten im Herd verbrennen lassen und danebenstehen, ohne es mitzukriegen. Wirklich das Allerletzte, Gesche. Heute früh schwörst du dir noch: Keine Vergesslichkeit mehr – Markus und Nicole sind weg, die Kinder brauchen dich, sei noch mal zu etwas nutze. Und dann Karlas verächtlicher Blick vorhin in der Küche. Das Mädchen guckt mir direkt in die verkalkte Rübe, dachte Gesche. Die brauchen mich nicht mehr. Ich kann auch bald nicht mehr. Und bevor es so weit ist …
    Draußen überschlug sich eine helle Knabenstimme in ausgelassenem Torjubel, dann prallte dumpf und regelmäßig ein Ball gegen die Schuppentür in Nachbars Garten. Gesche schloss das Fenster und sog die aufkommende Stille in sich ein. Sie legte den Kamm auf die Kommode und betrachtete sich noch einmal prüfend im Wandspiegel: Die Frisur saß, Rouge und dezentes Make-up ließen ihr Gesicht leuchten, als hätte sie ein Rendezvous. Dazu passte das Kleid perfekt, fliederfarben und auf die immer noch drahtige Taille geschnitten – Gesches Lieblingskleid.
    Als sie hinüber in ihr kleines Badezimmer ging, hörte sie es unten an der Haustür klingeln. Automatisch wollte sie sich auf den Weg zur Treppe machen, aber dann pfiff sie sich zurück. Sollen sich andere darum kümmern, dachte Gesche. Ich nicht mehr. Sie füllte am Waschbecken ein Glas mit Wasser und stellte es auf dem Rand ab.
    Dann öffnete sie das Schränkchen, in dem sie die Tabletten aufbewahrte.

    »Ich geh schon!« Fredo kam gerade noch rechtzeitig die Treppe hinunter, um Tim davon abzuhalten, an die Tür zu gehen. »Du bleibst

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