Mogelpackung: Roman
in die Küche. »Was ist denn hier passiert?«
Den großflächigen Rußfleck an der Decke hatte Fredo schon völlig vergessen. »Handwerkerschaden. Garantiefall«, schwadronierte er munter und riss dynamisch das Tiefkühlfach auf. Eine faustgroße Tupperdose purzelte ihm entgegen, stürzte ab und fiel zu Boden. Der Deckel löste sich, etwas rollte heraus und blieb zu Füßen der Lehrerin liegen.
Eine weiße Maus. Kalt, steif, tot.
Helena Anatol stieß einen Schrei der Phonkategorie »Rauchmelder« aus und schoss blitzartig aus der Küche. Einen Sekundenbruchteil später hörte Fredo die Haustür knallend ins Schloss fallen. Erschüttert sank er auf den nächsten Stuhl und starrte auf den verblichenen Nager. Die knotige Wucherung hinter dem Schlappohr war unverkennbar. Speedy. Hinter ihm kam jemand hereingestürzt.
»Wer schreit denn – oh nein, armer Kleiner …!«
Karla. Das Mädchen hockte sich neben den Kadaver und bugsierte die brettsteife Gefrierfleischmaus mit Hilfe des Plastikdeckels zurück in die Tupperdose.
»Ich war’s nicht«, baute Fredo vor.
»Weiß ich selbst«, blaffte Karla. »Aber dein Tipp mit der Gefrierfleischabteilung war gut.«
Fredo verschlug es einen Moment lang die Sprache. »Du hast deinen Speedy gekillt? Mal eben schockgefrostet?«
In den Augen des Mädchens standen plötzlich Tränen – Wut oder Trauer, schwer zu sagen. »Speedy hatte nur noch Schmerzen! Erfrieren tut nicht weh! Außerdem habe ich ihn vorher betäubt!«
»Womit denn?« Fredo hatte schon so eine Ahnung.
»Gesches Schlaftabletten.« Karla hielt den Tuppersarg eng an die Brust gepresst und verließ die Küche. Fredo stierte immer noch vor sich hin, als Gesche hereinkam. Küchenkampfbereit in blau-weißer Schürze, als sei nichts geschehen. »Fredo, Fredo. Wolltest mir nicht sagen, dass deine Klassenlehrerin kommt, was? Na komm, Junge – ich backe uns einen Kuchen und dann erzählst du mir, was du in der Schule wieder angestellt hast!«
»Gesche, Gesche.« Fredo erhob sich müde vom Stuhl und nahm seine Großmutter in die Arme. »Sei froh, dass du in keine Tupperdose passt.«
6.
F redo schwebte aus den Tiefen konfuser Träume ans Tageslicht, stieg langsam auf wie eine versunkene Flaschenpost mit Restluftblase. Ohne Botschaft, Absender unbekannt. Allmählich füllte sich sein Bewusstsein mit Erinnerungsfetzen und verstörenden Phantasien, in denen ein brettsteifer Mäuserich, die zeternde Gesche und ein faszinierend graugrünes Augenpaar die Hauptrollen spielten. Fredo wühlte sich aus seiner Decke, klappte probeweise ein Auge auf und erwischte die volle Ladung Morgensonne. Aaargh. Geblendet für immer. Blindlings rollte er sich aus dem Bett, tappte, vorsichtig zwinkernd, zur Terrassentür und trat hinaus. Die Sonne kitzelte immer noch, aber hier verwöhnte sie auch mit Wärme. Frühling in Bornstedt. Eigentlich gar nicht so übel, wenn diese ganzen Irren nicht wären, dachte Fredo und reckte sich genüsslich. Dabei streifte seine Hand filigranes, klebriges Geflecht – ein gefühlt faustgroßes Etwas rutschte in seinen T-Shirt-Ärmel und entfaltete umgehend krabbelige Aktivität auf nackter Haut. MONSTERSPINNE! Fredo ging durch wie ein Derbygaul auf Amphetamin, flitzte von der Terrasse in den Garten. Nur die üble Vorstellung eines zermatschten Riesenspinnenkadavers auf seinem bloßen Leib bewahrte ihn vor dem Reflex, sich auf der Stelle hinzuwerfen und ekstatisch windend über den Rasen zu rollen. Stattdessen riss er sich das lange T-Shirt herunter und feuerte es weit von sich. In wildem Veitstanz hüpfte Fredo durch die Beete, wischte sich beidhändig über die Schultern und schüttelte vermutete Ekelinsekten ab, bis plötzlich etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte und seine Verrenkungen bis zum Stillstand verlangsamte: Im Nachbargarten stand eine Frau vor ihrem halbbestückten Wäscheständer und starrte entgeistert zu ihm herüber.
Wahrscheinlich die Mutter von Knödel, der wandelnden Fußballberichterstattung – zum Glück nicht mit seiner Figur. Sogar eine sehr hübsche Figur, registrierte Fredo. Erst Sekunden nach dieser Feststellung kam ihm die Erkenntnis, dass er – wie meistens – nur im T-Shirt geschlafen hatte. Und das lag jetzt dort hinten auf dem Rasen.
Im Gesicht der Frau spiegelten sich Faszination und Empörung gleichermaßen. Hat keinen Plan, ob sie weglaufen oder weitergucken soll, dachte Fredo und tänzelte, einladend lächelnd, auf die Dame zu.
»Darf ich
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