Mogelpackung: Roman
wirklich, Frau Anatol! Meine Eltern können nicht in die Schule zum Gespräch kommen, morgen nicht und nächste Woche auch nicht! Die sind in China! Ein Vierteljahr! Ehrlich!«
Die Antwort darauf fiel so erregt aus, dass Fredo kaum noch folgen konnte. Die Redewendung »Verarschen kann ich mich selbst« meinte er aber herauszuhören. Tim schien echt in der Klemme zu sitzen, und so sah der Junge auch aus: ein Häufchen Verzweiflung, mit blassem Gesicht ans Telefon geklammert. Leiden pur, Stacheldraht im Harnkanal.
In diesem Moment kam Fredo die geniale Idee.
Er beugte sich blitzschnell vor und angelte dem verblüfften Tim das Telefon aus der Hand, lehnte sich gelassen im Sessel zurück und nutzte die erste Lücke im gegnerischen Redeschwall zum sonor vorgetragenen Konter. »Frau Anatol? Sind Sie das? Guten Abend!«
Verblüfftes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Tims Gesichtsausdruck passte perfekt dazu.
»Hallo – sind Sie noch dran?«, setzte Fredo jovial nach.
»Herr Fried?«, kam die Antwort endlich zweifelnd.
»Höchstpersönlich.«
»Sie sind also nicht in China.«
»Wie kommen Sie denn … Ach, wollte Timmie Sie abwimmeln? Na, darüber werden wir uns nachher noch unterhalten, mein Junge! Aber erst erzählen Sie mal, was Sie auf dem Herzen haben, Frau Anatol. Das kann ich dann gleich mit verhandeln …«
»Sie sind zu Hause. Hier in Bornstedt.«
Das klang sehr entschlossen. Jetzt zeigte sich Fredo ein wenig irritiert. »Ja. Natürlich. Sagte ich doch.«
»Ich würde die Angelegenheit lieber persönlich mit Ihnen besprechen.«
»Äh – jetzt gleich? Hier?«
»Sie sind doch jetzt zu Hause?«
»Ja, schon …«
»Prima. Mir passt es auch. Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen.«
Und aufgelegt.
5.
F redo legte das Telefon zurück auf den Tisch. Tim sah ihn panisch an. »Habe ich das richtig gehört? Die Anatol kommt hierher?«
Fredo nickte nachdenklich. Tim stöhnte verzweifelt auf. »Mann! Ich habe schon genug Ärger! Und du machst alles noch schlimmer! Warum mischst du dich da ein, verdammt?«
»Du warst dabei, dich um Kopf und Kragen zu reden. Hast du das nicht gemerkt? Sie hat dir nicht geglaubt. Wenn du schon eine Geschichte erfindest, dann muss sie glaubhaft sein.«
»Wieso erfinden? Meine Eltern sind tatsächlich in China und nicht erreichbar – das war die perfekte Ausrede!«
»Die Leute wollen nicht unbedingt die Wahrheit hören, sondern plausibel klingende Erklärungen. Ich schreibe fürs Fernsehen, da läuft es nicht anders.«
»Ich fass es nicht …« Tim schlug die Hände vors Gesicht.
Fredo blieb unbeirrt. »Du hast Probleme in der Schule. Schlechte Noten? Versetzung gefährdet? Das Übliche?«
Tim nahm die Hände wieder herunter und nickte entnervt.
»Das sind Bürokraten«, erklärte Fredo. »Die müssen ihr Programm abspulen. Tim zeigt schlechte Leistung. Also: Elterngespräch, blauer Brief, Schuljahr wiederholen. Wenn da irgendwo etwas hakt, nerven die immer weiter. Am Ende hast du jeden Tag Theater.«
»Hab ich sowieso«, murrte Tim. Trotzdem schien er sich die Ausführungen seines Onkels durch den Kopf gehen zu lassen.
»Die Anatol ist dazu verpflichtet, deine Eltern zu informieren. Ich dachte, mit etwas Glück gibt sie sich damit zufrieden, telefonisch bei jemandem, den sie für deinen Vater hält, ihren Tadel abzulassen. Dann hättest du auf Wochen, wenn nicht auf Monate Ruhe gehabt.«
Tim winkte verächtlich ab. »War wohl nichts, Onkel Fredo.«
Fredo ging darauf nicht weiter ein. »Wie ich meinen Bruder Markus einschätze, war der noch nie auf einem Elternabend in der Schule. Stimmt’s?«
»Ja. Und?«
»Ich habe bis zu meinem Abi auf derselben Schule gelitten wie du. Aber eine Frau Anatol hatten wir damals nicht …«
»Ist meine Klassenlehrerin. Erst seit letztem Herbst an der Schule.«
Fredo lächelte. »Bestens. Sie kennt deinen Vater nicht, sie kennt mich nicht. Ich wohne hier und heiße Fried. Was wird sie also denken?«
Der Junge sah seinen Onkel ungläubig an. »Du willst das weiter durchziehen? Echt jetzt?«
Fredo nickte selbstsicher. Jetzt hatte er ihn. Konnte Timmie zeigen, was der Onkel so alles draufhatte. Mit allen Wassern der Weltstadt gewaschen. Er erhob sich aus dem Sessel und sah auf seine Armbanduhr. »Zehn Minuten haben wir noch. Gut, dass Markus und ich ziemlich die gleiche Figur haben. Seine Klamotten sind im Elternschlafzimmer?«
»Was denn, du willst Papas Klamotten …?«
»Sieht so ein Banker aus, der gerade von
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