Mogelpackung: Roman
auch gesehen?« Das klang entschieden panisch.
»Wieso?«, entgegnete Fredo unschuldig. »Hattest du denn keine Freistunde?«
Der Junge kniff die Lippen zusammen und drückte sich wortlos an Fredo vorbei auf das Haus zu. Fredo hielt ihn an der Schulter zurück.
»Ich konnte sie rechtzeitig ablenken. Sie hat dich nicht gesehen.«
»Tooooll. Daaaanke, Onkel Fredo«, dehnte Tim ironisch, riss sich los und strebte zum Hauseingang.
»Ja. Angemessen!«, rief Fredo ihm nach, schon etwas genervt von so viel pubertärer Ignoranz. Der Junge drehte sich auf der Türschwelle abrupt um, angespannt und zornig gleichermaßen.
»Lass mich in Ruhe, ja? Mach einfach Urlaub, Onkel Fredo! Einfach nur Urlaub!« Damit verschwand er im Haus und knallte die Tür hinter sich zu. Fredo tastete unwillkürlich nach dem Schlüsselbund in seiner Hosentasche. Da war es. Wenigstens musste er jetzt nicht Karla heraus- oder Gesche aus dem Mittagsschlaf klingeln. Aber ins Haus wollte er jetzt eigentlich sowieso nicht. Fürs Erste hatte er genug von der ganzen Bande dort drinnen. Mach doch mal Urlaub, Fredo. Der Schlüssel vom Benz hing auch am Bund, die Brieftasche mit den Papieren trug er bei sich. Einer Spritztour stand nichts im Wege.
Fredo ließ den Motor kurz im Leerlauf aufjaulen, dann jagte er den Wagen im Rückwärtsgang die Einfahrt hinunter. Dem ausladenden Rhododendron wich er diesmal elegant aus. Dafür touchierte die entgegengesetzte Wagenflanke geräuschvoll die Mülltonne, die irgendwer hart an den Weg herangezogen hatte, damit die Müllabfuhr sie bloß nicht bei der Abholung übersehen würde. Wie eine Flipperkugel schoss die Tonne in die Büsche.
Hauptsache, der Müll ist weg, dachte Fredo und setzte die Limousine weiter zurück. Zum Glück sah er dabei jetzt auch endlich in den Rückspiegel und fand sofort das Bremspedal – sonst hätte das Wagenheck die blonde Gazelle voll erwischt, die gerade auf bemerkenswert hohen Absätzen in die Einfahrt stöckelte. Erschrocken hüpfte die junge Frau beiseite. Fredo nutzte die Gunst ihrer Schrecksekunde, um ihr im Vorbeifahren eine entschuldigende Kusshand zuzuwerfen. Dann war endlich die Straße erreicht. Er gab Gas und fühlte sich mit jedem Meter leichter, den ihn der Wagen vom Friedschen Anwesen entfernte.
Das Fell glänzte und fühlte sich weich an, als Karla behutsam darüberstrich. Auch unter dem Fell gab das Fleisch dem sanften Druck ihrer Fingerspitze nach. In dieser Hinsicht schien Speedy nach dem Auftauen wieder ganz der Alte zu sein. Leider nur in dieser Hinsicht. Die sonst so rot funkelnden Augen wirkten hinter halbgeschlossenen Lidern wie sandgestrahlte Glasperlen, trübe und erloschen. Die kleinen Nagezähne schimmerten knöchern, vergilbt, als entblößte sich hier bereits ein Teil des Skeletts. Und die einst flinken Füße mit den feinen Krallen, die unermüdlich das Laufrad getreten hatten, hingen nutzlos unter der Mauseleiche. Vergangen, aber doch noch da. Speedy war zwar nur eine Maus, aber selbst wenn er ein Löwe gewesen wäre – in diesem Zustand ließ er alles mit sich machen, er konnte nichts dagegen tun. Karla fand das beängstigend.
Es klingelte. Juliane war anscheinend pünktlich. Gut so. Ihre neue Klassenkameradin kam zum ersten Mal zu ihr nach Hause. Karla hatte darauf gebaut, dass ihr so kurz nach dem Mittagessen der Rest ihrer Familie nicht in die Quere kam, wenn sie Juliane empfing. Die war so cool … und dann die durchgeknallte Gesche oder der peinliche Tim mit seinem ewig durchgeschwitzten T-Shirt, das ging gar nicht. Behutsam schob sie die Schachtel mit dem toten Speedy zu und legte sie vorsichtig zurück auf den schmalen Mauersims unterhalb des Sonnendachs. Hier lag sie fast unsichtbar, geschützt und trocken. Karla trat aus dem Wintergarten zurück ins Wohnzimmer, strebte weiter in den Flur und öffnete die Haustür rechtzeitig beim zweiten Klingeln.
»Hi! Komm rein.«
»Karla. Hallooo.« Die junge Frau mit dem wallenden Blondhaar beugte sich elegant vor, stieß ihr Gesicht einmal links, einmal rechts neben Karlas Wange und ließ dabei Luftbusserl platzen. Karla erwiderte diese Begrüßung etwas unbeholfen.
»Ich zeige dir gleich das Wohnzimmer«, rettete sie sich in Aktionismus und verfolgte bewundernd Julianes lässigen und doch aufreizend berechnenden Hüftschwung, mit dem sie das Haus betrat wie eine Königin ihr angestammtes Schloss. Und das auf diesen Wahnsinnsabsätzen, fuhr es Karla durch den Kopf, auf den Dingern käme ich keine
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