Mogelpackung: Roman
zehn Meter weit. Karla litt eher selten unter Minderwertigkeitsgefühlen. Aber neben Juliane Färber fühlten sich vermutlich selbst egomanische Models blass. Wo Juliane auftauchte, stand sie im Mittelpunkt, so selbstverständlich wie ein Naturgesetz. Sie fiel in jede Gesellschaft wie ein Stein in spiegelglattes Wasser – sofort bildeten sich Wellen und zogen Kreise um sie. Wohin Juliane auch ging, ein unsichtbarer Scheinwerfer schien ihr zu folgen, um sie stets ins rechte Licht zu setzen. In ihrer Nähe beugten sich Männer wie Frauen kampflos ihrem Glanz. Das jedenfalls entsprach den Erfahrungen, die Karla bislang hinsichtlich ihrer neuen Klassenkameradin sammeln konnte.
Juliane Färber war erst vor drei Monaten nach Bornstedt gekommen. Ihre Mutter war eine Frau Professor Doktor an der Rehaklinik, dem größten Arbeitgeber des Städtchens, und galt als Koryphäe auf ihrem Gebiet – irgendwas mit Orthopädie, wusste Karla. Vorher war sie an einer Münchener Klinik gewesen. Und immer mal wieder im Ausland – Juliane war ganz schön herumgekommen und konnte lässige Anekdoten von ihren Aufenthalten an Orten erzählen, die der durchschnittliche Bornstedter im Leben nicht zu sehen bekäme. Juliane hatte auch schon diverse Privatschulen besucht, zuletzt eine in Kalifornien. Beim Wechsel zurück nach Deutschland hatte sie ein Schuljahr verloren. Sie sah also nicht bloß super aus, sondern war auch noch ein Jahr älter als Karla und die anderen. Siebzehn und unwiderstehlich. Juliane sah sich im Wohnzimmer um und schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Sie wischte sich eine blonde Strähne aus der Stirn und bemerkte beiläufig: »Hier soll es sein?«
»Ich stell alles um«, erwiderte Karla und ergänzte hastig: »Es kommt auch was raus und dafür etwas Neues dazu!«
Juliane rümpfte nachdenklich das wohlgeformte Näschen. »Den Tisch raus … insgesamt ein anderer Style … Könnte funktionieren.«
»Das funktioniert!«, bekräftigte Karla. »Den Wintergarten bauen wir loungig um, so als Chill-out-Zone. Falls man zwischendurch abhängen will.«
»Mit den Jungs, zum Beispiel?«
»Zum Beispiel.«
»Marcel, zum Beispiel?«
Nicht rot werden, verdammt, dachte Karla. Dann spürte sie die Hitze bis unter die Haarwurzeln aufsteigen und sah Juliane amüsiert grinsen.
»Ist ja auch ein ganz Süßer, unser Marcel! Aber meinst du, der kommt, wenn du ihn einlädst? Eine Mittelstufentussi hat der bestimmt nicht im Sinn …«
»Dann lade du ihn doch ein«, tat Karla Julianes Bemerkung ab, als wäre ihr dieses Thema völlig egal. »Altersmäßig bist du doch so gut wie Oberstufe.«
»Touché«, schmunzelte Juliane. »Die Oma der 10 b.«
»Aber ganz gut erhalten«, grinste Karla zurück.
»Soll ich Marcel für dich einladen?«
Lässt die denn gar nicht locker, dachte Karla. »Lade ihn ruhig ein. Aber nicht für mich.«
»Hey – bist du etwa schon vergeben?«, bedrängte sie Juliane in unverhohlener Neugier. Derart in die Enge getrieben, reagierte Karla mit einem zaghaften Nicken.
»Wow. Aus unserer Schule?«
Karla schüttelte den Kopf.
»Gleichaltrig?«
Karla blieb einfach beim Kopfschütteln.
»Älter …« Julianes Augen leuchteten plötzlich. »Etwa der Typ, der mich eben fast in eurer Einfahrt mit dem Wagen umgenietet hat? Wow!«
Karla lächelte unsicher. »Du bist Fredo begegnet?«
»Der? Echt?«
Juliane benahm sich plötzlich ganz anders, fand Karla. Endlich hatte sie ihre volle Aufmerksamkeit geweckt, und das genoss Karla. Da kam es ihr auf einen kleinen Schwindel nicht an. »Mmmh«, nickte sie bestätigend.
»Der sieht gut aus.« Keine Spur mehr von Überheblichkeit. In Julianes Stimme klang sogar so etwas wie Respekt mit. »Aber locker über dreißig, oder?«
»Fredo weiß wenigstens, wo es langgeht. Unsere pubertierenden Schulbubis sind doch öde«, versetzte Karla in gut gespielter Abgeklärtheit.
Juliane pfiff anerkennend leise durch die Zähne, trat zu Karla heran, legte ihr freundschaftlich einen Arm um die Schultern und zog sie mit sich zum Sofa. »Meine kleine Freundin Karla. Hat es faustdick hinter den Ohren und jede Menge Erfahrung – wer hätte das gedacht! Jetzt musst du mir aber alles ganz genau erzählen …«
Kühe. Wiesen. Etwas Wald. Noch mehr Kühe. Warum sagt mir das nichts?, fragte sich Fredo. Ich bin hier doch aufgewachsen. Damals sah es schon genauso aus. Hätte die Umgebung prägenden Einfluss auf die menschliche Entwicklung, müsste ich eigentlich ein echter
Weitere Kostenlose Bücher