Mogelpackung: Roman
überflog und die oberen Zweige touchierte. Der Ball prallte auf den Friedschen Rasen und hoppelte weiter, bis er nur wenige Meter vor Fredos Terrasse als unwiderstehliche Versuchung liegen blieb. Fast instinktiv riss es Fredo hoch. Kurz Maß genommen, angelaufen, Spannstoß durchgezogen, Abflug. Fredo sah das Leder im hohen Bogen über die Hecke entschwinden. Gerade, als er befriedigt abdrehte, klappte drüben irgendetwas scheppernd zusammen.
»Daniel! Meine Wäsche!«, schrillte es herüber. »Du sollst doch nicht … Wie oft hab ich dir gesagt …!«
Fredo legte die Hände trichterförmig vor den Mund und brüllte los: »Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Wir schalten zurück in die angeschlossenen Funkhäuser!«
Die Reaktion von drüben wartete Fredo nicht ab. Fluchtartig verließ er die Terrasse und schloss die Tür hinter sich. Leise in sich hineinkichernd strebte er den Rückzug zur Küche an.
Das Notizbuch lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Der Schulbrief zerknüllt daneben. Tim hatte sich nach Fredo im Notizbuch verewigt. Seine schlichte Antwort auf Fredos Frage lautete: Tu, was du willst. Schlimmer kannst du es kaum machen. Den Rest der Seite hatte Tim mit Zeichnungen gefüllt. Martialische Äxte, Drachenköpfe und Bandlogos der Gruppe Rammstein.
Die Folgeseite zierte eine ordentliche Mädchenhandschrift: @ Tim: Du stinkst. Wie wär’s mal mit einem T-Shirt-Wechsel?
Darunter Gesches Kommentar in zackigen Buchstaben: Wie wär’s mal mit einem freundlichen Umgangston?
Darunter wieder Karla: Sehr geehrter Herr Tim, Ihr Gewand bedarf dringend einer Reinigung. Ihr edler Leib vermutlich auch. Hochachtungsvoll, Karla.
Daneben Tim: Leck mich!
Karla: Nein. Du stinkst.
In Stil und Inhalt ausbaufähig, dachte Fredo, aber immerhin schon mehr Dialog, als ich seit Tagen von den beiden zu hören gekriegt habe. Er wertete das als Erfolg und ließ das Notizbuch deshalb auf dem Tisch liegen, nachdem er seine Antwort für Tim hineingeschrieben hatte: Tim, ich werde mit Frau Anatol sprechen. Bitte bis dahin nicht die Schule schwänzen.
Erst jetzt machte er sich Gedanken darüber, wie er denn Helena Anatol gegenüber agieren sollte. Die Lehrerin hielt ihn vermutlich immer noch für Tims Vater. Müsste er sie über seinen eigentlichen Status aufklären? Oder wäre das jetzt schon zu peinlich? Fredo beschloss, sich auf seine Intuition und auf seine bewährte Improvisationskunst zu verlassen. Das war auch viel weniger anstrengend, als sich jetzt schon den Kopf darüber zu zerbrechen. Erst mal musste ein Termin vereinbart werden. Die Nummer des Schulsekretariats stand im Briefkopf, vielleicht erreichte man dort noch jemanden. Fredo nahm den zerknüllten Brief vom Tisch, glättete ihn, ging hinüber ins Wohnzimmer und fläzte sich mit dem Telefon aufs Sofa.
9.
E twas war anders als sonst. Sie spürte es. Fühlte innere Unruhe in sich aufsteigen, die sie von der Korrektur der Erdkunde-Klassenarbeiten ablenkte. Helena Anatol blickte auf und zuckte zusammen: Aus einem Fenster im Haus gegenüber starrte sie jemand an. Ein Mann. Nicht gut zu erkennen, aber eindeutig ein Mann.
H elena glitt vom Schreibtischstuhl und zog sich ein Stück vom Fenster zurück, gerade weit genug, dass sie selbst noch den Fremden beobachten konnte. Wohnung unterm Dach, in etwa auf gleicher Höhe wie die ihre. Da wohnte sonst eine alte Frau. Mit einer gerüschten Tüllgardine vor dem Fenster, aber jetzt war die Gardine weg. Helenas Puls pochte, gleichzeitig fühlte sie sich wie gelähmt. Plötzlich bückte sich der Mann und kam wieder hoch, in der Hand die geraffte Tüllgardine. Und da stand auch schon die alte Frau neben ihm und dirigierte ihren Helfer beim Aufhängen der frisch gewaschenen Vorhänge. Keiner der beiden würdigte Helena Anatol eines Blickes, die sich jetzt aus ihrer Erstarrung löste und auf den Schreibtischstuhl zurückkehrte. Wahrscheinlich hat mich der Mann vorhin nicht mal bemerkt, dachte Helena und versuchte, sich wieder auf die Korrekturen zu konzentrieren. Es ging um die Bodenschätze Sibiriens. Als Helena zum wiederholten Mal mit den von eiligen Schülerhänden hingekritzelten Antworten durcheinanderkam und die heftig variierenden Umrisskreationen des Kusnezker Kohlebeckens vor ihren Augen verschwammen, schob sie den verbliebenen Stapel Klassenarbeiten von sich und beschloss, eine Pause einzulegen.
Sie kochte sich einen Kräutertee und fütterte die Musikanlage mit einer Vonda-Shepard-CD. Lange nicht gehört. Vonda, die Frau
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