Mogelpackung: Roman
am Piano in Ally McBeals Feierabendbar. Damals, auf der Uni, Helenas Lieblings-TV-Serie. Wenn eine neue Folge »Ally« lief, traf sie sich meist mit Stefanie und Vera, ihren besten Freundinnen aus dem Grundstudium Pädagogik. Fingerfood, Prosecco und wildes Gekicher. Obwohl sie sich über die ewigen Liebeswirren der jungen Anwältin lustig machten – insgeheim wollten sie alle Allys Leben: schneidig im Beruf, coole Kollegen in cooler Umgebung, jede Menge Begegnungen mit jeder Menge schrägster Typen, liebenswert verrückt sein und dabei immer top in Schale und gut aussehen.
Helena setzte sich mit ihrem Teebecher in ihren Lieblingssessel, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Begegnungen mit jeder Menge schrägster Typen hatte sie später wahrlich gehabt, im Nachhinein hätte sie gerade auf diese Erlebnisse nur zu gern verzichtet. Vor allem auf die, die dazu geführt hatten, dass – unter anderen – auch Stefanie und Vera aus ihrem Leben verschwunden waren.
Helena trank den Tee aus, stand auf und trat wieder ans Fenster. Drüben hingen die Gardinen akkurat und frühlingsfrisch, der junge Mann war nicht mehr zu sehen. Bestimmt ein netter, lieber Kerl, der nur schnell seiner Oma geholfen hatte. Warum lerne ich eigentlich nie die Netten kennen?, fragte sich Helena. Immer nur die komplett Durchgeknallten. Hier in Bornstedt auch schon wieder, zum Beispiel Tims Vater. Denk gar nicht erst an den, schalt sich Helena. Das ist der klassische Psychopath – sieht so jungenhaft gut aus mit seinem Wuschelhaar und den Lachfältchen, und dann haut er plötzlich und völlig unberechenbar so unfassbare Aktionen raus wie das Ding mit der tiefgefrorenen Maus. Schmeißt mit Steinen und zerschlägt ihr die Weinflasche. Oder bespringt sie auf dem Sofa … Helena dachte wieder einmal an ihren verunglückten Elternbesuch im Hause Fried, an das Gewicht des Mannes auf ihrem Körper, und schmunzelte unwillkürlich. Näher an ungezügeltem Sex war sie in Bornstedt bislang noch nicht gewesen. Traurig genug. Hätte nur noch gefehlt, dass seine Frau ins Zimmer geplatzt wäre, als sie lang auf dem Sofa lagen. Nicole, Helena hatte in der Schulakte nachgesehen. Aber wahrscheinlich zählte Nicoles Meinung im Hause Fried sowieso nicht allzu viel, bei so einem Psychopathen als Ehemann … Markus hieß er. Hatte Helena natürlich auch nachgesehen. Eigentlich kein Wunder, dass Tim solche Probleme machte. Bei dem Vater …
Telefonklingeln riss Helena aus ihren Gedanken. Sie fischte das schnurlose Gerät vom Schreibtisch und meldete sich.
»Hallo, Frau Anatol, hier Fried, es geht um Ihren Brief …«
»Woher haben Sie diese Nummer?«, herrschte Helena den Anrufer an und fühlte gleichzeitig, wie ihr eine Panikattacke die Kehle zuschnürte.
»Na ja, von der Schule …«
»Von wem?«
»Hören Sie, das ist doch völlig egal …«
»Das ist nicht egal!«
»Also, mir ist das egal. Ich möchte nur wegen Ihres Briefes ein Gespräch mit Ihnen vereinbaren, okay?«
Dreh nicht durch, Helena, beschwor sich die Lehrerin. Alles normal. Mein Brief, und jetzt die Reaktion. Alles normal. Sie atmete einmal tief durch, dann antwortete sie: »Gut. Aber diesmal in der Schule.«
»Gern. Allerdings verpassen Sie dann das tiefgefrorene Mammut in unserem Garten.«
Sie hörte das Schmunzeln in seiner Stimme und stellte sich die verschmitzten Lachfältchen vor. Psychopath, trotzdem.
»Mir genügt schon das leibhaftige Trampeltier. Sie schulden mir noch eine Flasche Wein.«
»Darf man die in die Schule mitbringen? Oder treffen wir uns doch lieber woanders?«
»Schule, Elternsprechzimmer«, erwiderte Helena entschieden. »Leider ist mein Terminkalender diese Woche schon ziemlich dicht – es sei denn, Sie hätten vormittags Zeit.«
»Kein Problem, freie Auswahl«, kam die prompte Antwort.
In was für einer Bank arbeitet der denn, dachte Helena, kein Wunder, dass die reihenweise pleitegehen. »Morgen habe ich eine Freistunde. Elf Uhr?«
»Perfekt. Etwas Gebäck vielleicht?«
»Seien Sie pünktlich. Das reicht völlig. Guten Tag, Herr Fried.« Damit legte Helena auf.
»… und du mich auch«, murmelte Fredo und stellte seinerseits das Telefon zurück in die Ladestation. Diese Frau war ihm ein Rätsel. Immer, wenn er einen Funken Humor aus ihr schlug und so etwas wie aufkeimende Sympathie in der Luft lag, löschte sie sofort mit der kalten Dusche. Anstrengend. Umdrehen und in die andere Richtung laufen, das wäre die Fredo-gemäße Reaktion darauf.
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