Mogelpackung: Roman
riss sich Karla los, flüchtete durch den Flur und rannte die Treppe hinauf.
»Hau nicht einfach ab!«, rief Fredo ihr nach, aber da wurde oben schon geräuschvoll die Zimmertür zugedonnert und ein Schlüssel im Schloss gedreht. Fredo fragte sich immer noch, was er von dieser irren Aktion halten sollte, als ihn sein Mobiltelefon mit dem hämmernden Gitarren-Intro von »Highway to hell« aus allen Spekulationen riss.
Der Anrufer war sein Bruder Markus. Er klang ziemlich aufgeregt. »Was ist denn los bei euch, kein Schwein geht ans Telefon, keiner ruft hier an, ich habe die Telefonnummer unserer Suite längst gemailt, die Handynummern habt ihr auch, Nicole dreht schon am Rad …«
»Nun krieg dich mal ein! Hier ist alles okay. Kein Grund zur Panik.«
»Was ist mit Gesche?«
»Alles im Griff.«
»Die Kinder?«
»Alles bestens. Mir geht es übrigens auch gut.«
Ironie perlte an Markus grundsätzlich ab. »Haus steht noch?«
»Mmmh.«
»Auto fährt?«
»Na klar«, versicherte Fredo wahrheitsgemäß – sein Bruder hatte schließlich nicht nach irgendwelchen Schäden am Wagen gefragt. »Entspann dich endlich, Alter.«
Markus schien tatsächlich aufzuatmen. Vielleicht rauschte auch bloß die Verbindung. »Okay … mach ich. Ist nur … Nicole macht mich ganz irre mit ihren Bedenken. Du bist Kinder nicht gewöhnt. Und unsere sind beide in der Pubertät, da ist ja nicht immer alles so ganz einfach …«
Schön, dass du mir das jetzt erzählst, dachte Fredo grimmig. Laut bemerkte er: »Sind gut drauf. Alle beide.«
»Pass gut auf sie auf, Fredo. Tim lässt sich manchmal ein bisschen hängen. Und Karla ist noch so ein kleiner Unschuldsengel …«
Wenn du wüsstest, Bruderherz. Wann hast du deine Tochter zuletzt gesehen? »In der Tat. Ganz entzückend unschuldig«, bestätigte Fredo lahm und versuchte einen Themenwechsel. »Und – bei euch? Wie läuft’s mit dem asiatischen Markt?«
»Jede Menge Konferenzen. Das erste Meeting lief schon eine Stunde nach der Landung in Shanghai.«
»Zu viel Arbeit ist nicht günstig für den Honeymoon.«
»Dann müsstest du ja permanent im siebten Himmel schweben.«
»Sind Ferngespräche aus Fernost nicht zu teuer für Bruder-Bashing?«
»Firma zahlt.«
Fredo simulierte ein Schnüffeln.
»Nicht weinen, Kleiner«, höhnte Markus.
»Ich weine nicht, ich schnuppere. Gesche kocht, und ich rieche Rauch. Ich glaube, da treiben sogar Schwaden …«
»Was? Fredo! Sofort nachsehen! Feuerlöscher …«
»Tschüs, Großer«, unterbrach Fredo sanft, »mach mal Urlaub.« Damit drückte er Markus weg und schaltete dann das Handy ganz ab. Sekunden später begann der Apparat im Wohnzimmer zu klingeln. Unermüdlich. Immer wieder. Fredo wandte sich grinsend ab. Behält Markus mal wieder recht, dachte er. Kein Schwein geht ans Telefon.
Am Abend ging man sich aus dem Wege. Irgendwann kam Tim nach Hause, schob eine Tiefkühlpizza in den Backofen und verzog sich kurz darauf damit in sein Zimmer. Auch Gesche rumorte eine Zeitlang in der Küche, blieb aber nicht lange. Von oben drangen gelegentlich Geräuschspitzen aus ihrem ziemlich laut gestellten Fernseher durchs Haus. Die getragenen Dialoge, unterlegt von blechernen Fanfaren auf quäkender Tonspur, ließen auf eine Hollywoodproduktion der Vorkriegsära schließen.
Fredo hätte ganz gerne gewusst, was Karla zu ihrer Zärtlichkeitsattacke getrieben hatte. Doch da sich das Mädchen sowohl an diesem wie auch am nächsten Tag so gut wie nicht mehr blicken ließ, ergab sich keine geeignete Gelegenheit zur Nachfrage, bis Fredo der Angelegenheit schließlich keine besondere Bedeutung mehr beimaß.
Im Zusammenleben ihrer Hausgemeinschaft kehrte eine besondere Art der Stille ein, wie die Ruhe zwischen zwei Atemzügen. Tim radelte morgens zur Schule, und wenn er wiederkam, redete er so wenig wie möglich. Sein einziger Anspruch schien darin zu bestehen, dass Kühlschrank und Gefriertruhe ein ausreichendes Sortiment an Junkfood bereithielten. War das der Fall, war die Welt für ihn in Ordnung. Einige Male wurde er von Patrik abgeholt. Fredo hatte keine Ahnung, wohin die Jungen gingen oder was sie so trieben.
Karla dagegen redete den ganzen Tag. Bloß nicht mit ihrer Familie. Sie kommunizierte zumeist mehrgleisig – Handy, Chat, Festnetz – mit ihrer Community, mit der sich Fredo allerdings nie persönlich konfrontiert sah, von der denkwürdigen Begegnung mit Juliane Färber einmal abgesehen.
Gesche hielt sich in allem sehr zurück.
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