Mogelpackung: Roman
hatte keine Wahl, Karla«, erwiderte Helena Anatol. »Man handelt nämlich so, wie man es von sich selbst erwartet – und wie es von einem erwartet wird. Wenn ich einen zwanzig Jahre älteren Mann mit einer minderjährigen Schülerin herumknutschen sehe, erwarte ich von mir, dass ich mich einmische. Als Lehrerin erwarten das im Übrigen auch die Eltern und mein Arbeitgeber von mir.«
»Ich sage ja gar nichts dagegen, dass Sie sich einmischen, Frau Anatol! Aber was soll das damit zu tun haben, dass Karla mich und die anderen so verarscht hat?«, schaltete sich Juliane wieder ein.
»Manchmal handelt man eben nicht nur so, wie es von einem erwartet wird«, erklärte Helena geduldig. »Sondern so, wie man glaubt, dass es von einem erwartet wird. Erzählst du nicht selbst öfter mal Geschichten über deine Liebesabenteuer?«
»Ja«, erwiderte Juliane hochnäsig. »Aber die stimmen dann auch!«
»Und alle finden es toll, stimmt’s? Und wer auch so toll sein will, muss dann noch eine Schippe drauflegen, nicht wahr? Das sollte aber keiner nötig haben. Karla, bitte sieh mich an …« Helena wartete ab, bis das Mädchen widerwillig den Kopf hob, und fuhr dann fort: »Du bist klug, eine sehr gute Schülerin und in deiner Klasse beliebt. Da muss man keine Liebhaber erfinden. Juliane …« Die Lehrerin wandte sich dem anderen Mädchen zu. »Du bist ein Star in deiner Klasse und sprichst perfektes American English. Dafür hast du von anderen Dingen nicht so viel Ahnung. Mathe und Physik zum Beispiel, wie ich gehört habe. Macht nichts. Keiner kann alles, keiner hat alles. Akzeptiert euch selbst und macht euch selbst nicht zum Maßstab für alle. Das wollte ich euch nur sagen. Denkt darüber nach. Und vielleicht könnt ihr dann Freundinnen bleiben. Okay?«
Zum ersten Mal während ihres Gesprächs mit der Lehrerin sahen sich die beiden Mädchen in die Augen – Karla unruhig und flattrig, Juliane sehr beherrscht und verschlossen. Schwer zu sagen, ob sie bereits das Messer wetzt, dachte Karla. Vorsichtig streckte sie die Hand aus.
»Entschuldige, Juli«, bat sie stockend. »Ich wollte dich nicht verarschen. Es ist so, wie Frau Anatol sagt. Ich hab gedacht, ohne Freund nimmst du mich nicht für voll.«
Juliane lächelte mild. »Du Schaf. Würde ich doch nie machen. Außerdem werden Männer überschätzt. Wer braucht die schon? Freundinnen dagegen …«
Sie nahm Karlas Hand und schüttelte sie kurz. Karla riskierte ein zaghaftes Lächeln. Helena registrierte die versöhnliche Geste zufrieden und erhob sich. »Dann wäre das ja geklärt. Schöne Restpause noch.«
»Ihnen auch«, lächelte Juliane zuckersüß, und Karla brachte sogar ein »Danke, Frau Anatol« hervor, bevor die Lehrerin den Raum verließ. Dann waren die Mädchen unter sich.
»Wollen wir uns vielleicht heute Nachmittag treffen?«, schlug Karla vorsichtig vor. Juliane erdolchte sie mit einem Blick aus purem Eis, strebte zur Tür und rempelte sie im Vorbeigehen empfindlich mit der Schulter an.
»Geh mir aus dem Weg, Schnepfe.«
Akzeptiert euch selbst, macht euch nicht zum Maßstab für alle. Ich hab gut reden, dachte Helena Anatol, aber es ist scheinbar ganz anständig gelaufen. Vielleicht wäre die Angelegenheit zwischen Karla und Juliane damit tatsächlich geklärt. Für sie selbst noch lange nicht, aber daran trugen die Mädchen ja keine Schuld.
Auf ihrem Weg durch die langen Flure zum Lehrerzimmer gähnte Helena ebenso ausgiebig wie ungeniert. Nach ihrer nächtlichen Bettflucht bei Fredo hatte sie sich zu Hause zwar noch mal hingelegt, an Schlaf war jedoch nicht mehr zu denken gewesen. Zu viel Kopfkino. Angst vor der Nähe, auf die sie sich so unkontrolliert eingelassen hatte. Und trotzdem auch Freude über das Gefühl, doch noch genug vom unbekümmerten Ally-McBeal-Lebensgefühl ihrer Studententage bewahrt zu haben, um ein solches Abenteuer wie das mit Fredo zuzulassen. Dafür war sie ihm durchaus dankbar. Das war nicht wenig, und mehr sollte nicht sein. Sicherheitshalber. Irgendwann zwischen Morgengrauen und Weckeralarm hatte Helena beschlossen, diese Nacht als prickelndes, aber singuläres Erlebnis zu betrachten und sich nicht um Fortsetzung zu bemühen. So wie sie ihn einschätzte, lag das sicher auch in Fredos Sinne. Aber schön war es gewesen. Die Erinnerung daran formte unwillkürlich aus ihrem nächsten Gähnen ein Grinsen.
Als Helena eben am Kopierraum vorbeikam, grätschte ihr jemand verbal in die Gedanken.
»Guten Morgen, Helena –
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