Mogelpackung: Roman
Rotznase bin«, erklärte Fredo leichthin und überflog die Verse. »Was musst du denn damit machen?«
»Interpretation«, stöhnte Tim.
»Und dazu fällt dir nichts ein?«
»Ich komm da nicht rein«, beschwerte sich der Junge. »Ich meine, das ist ja eine ganz nette Geschichte …«
»Nett, na ja …«
»Spannend, dramatisch, so meine ich das«, ereiferte sich Tim ungeduldig. »Aber da steht ja schon alles! Dampfer fährt, fängt Feuer, einzige Chance für die Passagiere: ans Ufer, so schnell wie möglich. Das haut hin, aber nur, weil John Maynard so lange am Steuer bleibt, bis er selbst zum Grillhähnchen wird. Dafür kriegt er ein Denkmal. Steht alles im Gedicht, schön gereimt. Was gibt es da denn noch zu interpretieren?«
»Was weißt du denn über das Gedicht?«
»Ich kann’s schon auswendig, so oft hab ich’s gelesen!«
»Das meine ich nicht«, erklärte Fredo geduldig. »Weißt du zum Beispiel, ob eine wahre Geschichte dahintersteckt? Hat es John Maynard wirklich gegeben? Wann hat der Dichter Fontane gelebt? Wie ist er auf diese Geschichte gekommen? Und warum steht die heutzutage immer noch in den Schulbüchern?«
»Woher soll ich das wissen?«, maulte Tim.
Fredo wies lapidar auf den Computermonitor. »Lass die Suchmaschine los. Und gib dich nicht gleich mit den drei ersten Einträgen bei Google zufrieden.«
»Ist doch voll öde.«
»Das nennt man Recherche. Und die ist selten öde, kannst du mir glauben. Du kennst dich doch aus am PC! Nun zeig mal, was du draufhast.«
Tim klapperte wortlos auf der Tastatur herum, der Monitor erwachte aus schwarzer Lethargie. Wenige Mausklicks später tobte bereits wieder wildes Schlachtgetümmel und erfüllte den Bildschirm mit Mord und Totschlag. Hoffnungsloser Fall, dachte Fredo entnervt, aber immerhin habe ich es versucht.
Tim beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich Fredo den Weg zurück zur Tür bahnte. Kaum war sein Onkel aus dem Zimmer, minimierte der Junge die Schlachtfeld-Ansicht und rief die Suchmaschine auf den Monitor.
»Thema der Fortbildung: ›Freies Spiel‹! Ich bitte dich, was soll das sein, ›Freies Spiel‹? Ein ganzes Wochenende ohne Inhalt?« Wolfgang Köhler gestikulierte so raumgreifend, dass Helena Anatol sicherheitshalber ihr Rotweinglas vom Tisch nahm und in der Hand behielt. Die Tagliatelle hatte sie schon restlos verputzt, da konnte nichts mehr passieren, auch wenn sich ihr Kollege noch weiter aufregte.
»Das ist doch keine Pädagogik! Freies Spiel ist Müßiggang. Angeblich kreativitätsfördernd. Aber wie denn?«
»Vielleicht hättest du doch zur Fortbildung gehen sollen«, bemerkte Helena. »Da hätte man dir das bestimmt beantwortet.«
»Ich will dir mal was sagen.«
Köhler versuchte, seinen Blick mit größtmöglicher Intensität in Helenas graugrüne Augen zu bohren. Sein Ausdruck erinnerte an Schlangenbeschwörer und Sektengurus, fand Helena und unterdrückte nur mühsam ein albernes Kichern. Was natürlich auch am Montepulciano liegen mochte. Schon die zweite Flasche, rekapitulierte sie. Oder die dritte?
»Lebenszeit ist kostbar«, verkündete Köhler mit bedeutungsvoll gesenkter Stimme. Seine vom Alkohol abgeschliffene Artikulation machte aus »kostbar« ein schlampig ausgespucktes »kossbar«, was den salbungsvollen Inhalt seiner Aussage erheblich karikierte. »Viel zu kostbar für Dinge ohne Sinn!«
»Genau. Dinge ohne Sinn sind nämlich sinnlos!« Was für ein Gelaber, dachte Helena. Ich will ins Bett.
»Richtig!«, stimmte ihr Köhler erfreut zu. »Gott hat für jeden von uns eine Aufgabe. Die müssen wir erfüllen, jeden Tag …«
Bitte, nein, jetzt nicht auch noch Gott, flehte Helena innerlich. Bislang war der Abend langweilig, aber korrekt verlaufen. Tagliatelle und Rotwein im »Feuerofen« und ein Gespräch, das sich ausschließlich um unverfängliche Banalitäten und harmlose Schulfragen gedreht hatte. Köhler hatte sich sehr zurückhaltend, fast steif gegeben, was Helena durchaus recht gewesen war. Aber jetzt schien sich beim Kollegen die Bremse gelockert zu haben. Leider, fand die junge Lehrerin.
»Jeden Tag ruft uns Gott, und an jedem Tag könnte es so weit sein, dass er uns zu sich beordert und uns fragt: Was habt ihr mit dem Leben getan, das ich euch gegeben habe?«
»Freies Spiel?«, entfuhr es Helena wider Willen. Dann raffte sie ein spontaner Kicheranfall dahin, bis sie bemerkte, dass Köhler nicht mitlachte und sie nur betrübt anstarrte. Sie sammelte sich – mit Mühe, aber
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