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Mogelpackung: Roman

Mogelpackung: Roman

Titel: Mogelpackung: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Schröter
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sofort.«
    Patrik spitzte die schmalen Lippen über dem zauseligen Ziegenbärtchen und pfiff mit verklärtem Blick eine Tonfolge. Tim identifizierte die Titelmelodie des Kinofilms »Titanic«, zeigte dem Freund einen Vogel und dozierte weiter.
    »An Bord gibt es nur knapp hundert Rettungswesten. Wer kann, schnappt sich eine. Der Kapitän gibt den Befehl zum Umkehren – wieder zurück nach Buffalo, so nah und so schnell wie möglich zurück ans Ufer. Luther Fuller, der Mann am Ruder, zieht das Ding durch!«
    »Und zwar mit qualmenden Socken!«, kommentierte Patrik, nun doch gepackt von Tims dramatischem Bericht.
    »Nach und nach springen fast alle über Bord. Die Leute klammern sich an den gekenterten Booten oder an irgendwelchen Trümmerteilen fest. Oder ersaufen einfach. Zwei Schiffe kommen dem brennenden Wrack zu Hilfe, fischen ein paar Leute aus dem Wasser und nehmen die ›Erie‹ an die Schleppleine …«
    »Wie – was? Die fährt nicht aus eigener Kraft?«
    »Der Kahn brennt ab bis zur Wasserlinie, noch lange bevor man Land und Hafen erreicht. Die Bergungsmannschaft kappt die Seile, und das Wrack säuft auf der Stelle ab.«
    »Keine Rettung auf dem Strand von Buffalo? Keine Brandung? Keine Klippen und mit Vollgas drauf?«
    Tim schüttelte langsam den Kopf.
    »Das ist ja original Beschiss.« Patrik wirkte regelrecht enttäuscht.
    »Sag ich ja.«
    »Und der Steuermann? Der Superheld, formerly known as John Maynard?«
    »Luther Fuller? Bleibt wohl bis zum Untergang auf seinem Posten und überlebt, wenn auch mit ziemlich heftigen Verbrennungen. Kann man sich ja vorstellen. Und von den zwei- bis dreihundert Passagieren überleben bloß neunundzwanzig. Vielleicht nur zehn Prozent aller Leute an Bord. Schon nicht mehr ganz so hitverdächtig, was?«
    »Aber das schöne Denkmal? Goldene Schrift, Marmorstein? Alles gelogen?«
    »Noch viel schlimmer als das, sag ich dir!«
    »Noch schlimmer?«
    »Diese Ballade steht seit über einem Jahrhundert in deutschen Schulbüchern. Was meinst du, wie viele deutsche Touristen auf ihrem USA-Trip durch Buffalo getrabt sind und vergeblich den verdammten Grabstein von John Maynard gesucht haben?«
    »Reichlich, schätzungsweise.«
    »Kannst du sicher sein. Und weil man seine Gäste ja nicht enttäuschen will und nebenbei auch gerne Souvenirs vertickt, haben die Amis 1997 am Hafen von Buffalo ein Maynard-Denkmal hingesetzt.«
    Patrik raufte sich empört das spärliche Bärtchen. »Aber, wenn die Geschichte überhaupt einen Helden hat, dann ist das doch Luther Fuller. Warum hat der kein Denkmal bekommen?«
    Tim grinste bitter und tippte seinem Freund mit dem Zeigefinger vor die Brust. »Das, lieber Patrik, ist die Pointe dieser ganzen Lügennummer: Fuller erlitt infolge seines Verbrennungstraumas einen Dachschaden, wurde Alkoholiker und starb im Armenhaus.«
    Patriks Gesicht verzog sich in die Länge. Ein langgezogenes Dreieck sozusagen. Trotzdem noch asymmetrisch. »Das ist ja mal wieder typisch. Die wahren Helden werden immer verkannt!«
    »Eine Havarie mit einem Schiff namens ›Schwalbe‹ hat es in den USA etwa zur gleichen Zeit übrigens doch gegeben«, trumpfte Tim weiter auf. »Das war 1845. Aber auf dem Hudson River, nicht auf dem Eriesee. Und dabei ging es schon mal gar nicht heldenhaft zu, sondern bloß um ein Wettrennen zwischen zwei Kapitänen, die sich gegenseitig aufgestachelt haben wie zwei BMW-Fahrer vor einer Ampel!«
    »Wow«, staunte Patrik angemessen. »Woher weißt du das alles, Mann?«
    »Recherche«, erklärte Tim stolz. »Man darf sich bloß nicht gleich mit den ersten drei Einträgen bei Google zufriedengeben.«
    »Wissen ist Macht«, bestätigte Patrik altklug, um dann ratlos zu ergänzen: »Und was machst du nun mit diesem Wissen?«
    »Ich bastele eine Bombe daraus.« Tims Augen glänzten vorfreudig. »Die Zeit ist reif für eine Bombe.«
    Patriks Lippen verzogen sich zu einem schmalen Grinsen. »Absolut. Erst du, dann ich!«
    Die Schulglocke unterbrach ihr konspiratives Gelächter. Bis zum Schulhof gingen sie noch gemeinsam, dann trennten sich ihre Wege: Patrik Stenzel nutzte einen Nebeneingang, um zu seiner Klasse zu gelangen, die er verächtlich als »Hobbithaufen« bezeichnete. Doch bevor er im Gebäude verschwand, drehte er sich noch einmal zu Tim um, reckte die Fäuste gen Himmel und schrie furchterregend laut über den Schulhof: »Go, Timmie, go! Bombe! BOOOOOOM!« Einige jüngere Schüler, ebenfalls auf dem Weg zum Nebeneingang, wichen erschrocken

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