Mogelpackung: Roman
Schloss.
Noch einer weniger, dachte Gesche. Keiner mehr da. So eine Gelegenheit gäbe es für sie vielleicht nie wieder. Sofort ging sie zur Treppe und erklomm die Stufen hinauf ins Dachgeschoss. Auf halber Strecke fiel Gesche ein, dass sie die Saftflasche in der Küche vergessen hatte. Sie stieg die Treppe trotzdem weiter hinauf, Stufe für Stufe.
Sie würde keine Getränke mehr brauchen.
»Du hast sie mit dem Fußball abgeschossen?« Helena Anatol lachte laut heraus. Gerade hatte Fredo ihr erzählt, auf welche Weise er seiner früheren Freundin Sandra nähergekommen war. »Da kann ich ja froh sein, dass du mich nur auf dem Sofa umgeworfen hast!«
»Ich habe dich vor meiner Großmutter gerettet«, protestierte Fredo. »Das war eine Heldentat!«
»Im Grunde deiner Seele bist du ein Neandertaler«, ulkte Helena. »Anschleichen, Keule drüber, Frau als Beute in die Höhle schleifen.«
Fredo stieß Briegel an. »Hast du mal ’ne Keule?«
»Hätte ich eine, würd ich sie Köhler überziehen«, knurrte der Riese und wies auf die gegenüberliegende Seite des Spielfelds, wo Wolfgang Köhler aufgedreht an der Seitenlinie entlangtobte und lautstark Anweisungen brüllte.
»Ich finde es ungerecht, dass er Daniel überhaupt nicht mitspielen lässt!«, beschwerte sich Katrin.
»Das ist mehr als ungerecht. Das ist eine Sauerei«, bekräftigte Fredo.
Helena sah mitleidig hinüber zu dem dicken kleinen Jungen, der, etwas abseits von den anderen Auswechselspielern, im Gras saß und resigniert das Spiel seiner Mannschaft verfolgte. »Ich rede mal mit Wolfgang«, erklärte sie entschlossen. »Eigentlich kann er ganz umgänglich sein.«
»Das hat man von Hannibal Lecter auch behauptet«, murmelte Fredo und blickte der jungen Lehrerin nach, die jetzt das Spielfeld umrundete und Kurs auf ihren Kollegen nahm.
Wolfgang Köhler sah nervös auf die Uhr. Seine Jungs standen im Halbfinale, es stand unentschieden, gleich war Halbzeit. »Beweg dich, Robin!«, gab er seinem Spieler Feuer. »Energischer rangehen, Juri! Kristof, nicht so eigensinnig!« Aus den Augenwinkeln sah er Helena Anatol nahen.
»Wolfgang, darf ich dich mal etwas fragen …«
»Kristof! Bist du blind?« Köhler wandte sich unwirsch an seine Kollegin. »Was ist denn?«
»Von deiner Mannschaft haben schon alle gespielt – nur einer nicht …«
»Wir wollen hier etwas erreichen! Das funktioniert nur über Leistung«, erwiderte Köhler scharf.
»Das sind Kinder. Es geht doch vor allem um den Spaß und ums Gemeinschaftserlebnis«, widersprach Helena, nun auch schon etwas heftiger.
»Freies Spiel, was?«, zischte Köhler verächtlich. Dann sah er seine Kollegin vorwurfsvoll an und stellte mit kaum unterdrücktem Groll fest: »Anscheinend vernebelt der traute Umgang mit Typen wie diesem Fredo Fried den Blick für die Realitäten!«
Bevor Helena entrüstet darauf antworten konnte, pfiff der Schiedsrichter zur Halbzeit. Wolfgang Köhler trommelte händeklatschend seine Truppe zur Pausenbesprechung zusammen und ließ die Kollegin einfach stehen.
Die Gasflasche kam ihr heute noch schwerer vor als neulich. Wahrscheinlich lassen meine Kräfte täglich nach, dachte Gesche und wuchtete den grauen Stahlbehälter aus der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks, wo sie ihn hinter ein paar alten Wolldecken verborgen gehalten hatte. Da stand er nun, mitten in ihrem Wohnzimmer. Die Fenster hatte Gesche alle geschlossen. Allerdings bezweifelte sie nun doch, dass Gas ausreichen würde, um sich damit zu vergiften. Ihr Wohnzimmer war zwar nicht sehr geräumig, aber bestimmt groß genug, dass sich das bisschen Gas überall harmlos verteilen könnte. Wenn sie vielleicht einen kleineren Raum wählte und da alles abdichtete … Ihr kleinstes Zimmer war das Bad. Doch als Gesche es nun betrachtete, erschien ihr auch das noch als viel zu groß für ihr finales Vorhaben. Ihr kamen beinahe die Tränen. Es musste hier und jetzt passieren! Es war die vielleicht letzte Gelegenheit dafür, alles auf ihre Art zu beenden. Und wer weiß, gestand sie sich insgeheim ein, ob ich jemals noch die Kraft für einen zweiten Versuch aufbringe.
Deshalb durfte sie das Gas auch nicht vergeuden. Sie musste es so einsetzen, dass es hundertprozentig tödlich wirkte. Gesche schob sich einen Stuhl vor den Behälter und starrte nachdenklich auf das graue Ding. Schlank und rund wie eine Fliegerbombe, fand sie. Eine Bombe. Gas ist explosiv, meistens jedenfalls. Gesche erinnerte sich an Zeitungsberichte von
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