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Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Titel: Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Horvath
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gelegenen Dorf, dann gibt sie auf. Zu Fuß erreichen sie die Grenze zu Syrien, ein Lkw-Fahrer erbarmt sich ihrer und nimmt sie bis kurz vor Damaskus mit, dort finden sie Aufnahme in einem überfüllten Flüchtlingslager.
    Das Lager, ein Stacheldrahtviereck auf nacktem Feld, ist nur eine erste Aufnahmestelle. Nach einem Monat müssen sie fort, von da an teilen sie sich mit einer sechsköpfigen Familie eine schäbige Wohnung in einem Vorort von Damaskus. Viele Bewohner des heruntergekommenen Viertels sind Flüchtlinge, viele hatten früher Häuser, Autos und gute Jobs, denn die, die nichts hatten, sind erst gar nicht bis hierher gekommen. Die meisten leben von ihren Ersparnissen, doch bei den wenigsten reichen sie länger als ein paar Monate. Syrien hat kein Geld für die Hunderttausenden gestrandeten Menschen, Arbeit gibt es für die wenigsten, die einzige Hoffnung sind Geldsendungen von Verwandten oder Freunden aus dem Ausland. Wenn alle Geldquellen versiegt sind, bleibt manchen Frauen in ihrer Verzweiflung und ihrem Hunger nichts anderes übrig, als die eigenen Körper oder die ihrer Töchter zu verkaufen. Aziza, die sechzehnjährige Tochter der Nachbarn, ist eine jener Unglücklichen.
    Djamilas Familie hat Glück: Sie bekommt Geld von zwei Brüdern der Mutter im Irak und von einem Bruder des Vaters in Schweden. Djamilas Mutter findet bald Arbeit als Hilfskrankenschwester. Sie arbeitet und arbeitet, sie opfert sich auf, sie verkauft, die letzten Reserven aufbietend, Schmuck von ihrer verstorbenen Mutter, um ihren Kindern eine Zukunft schenken zu können, eine Zukunft bei der Familie des Onkels in einem Vorort von Stockholm. Für mehr als ein Kind reicht das zusammengesparte Geld jedoch auch nach mehrmaligem Umdrehen nicht, die Mutter muss wählen. Subaia, die Jüngste, kommt mit ihren sieben Jahren nicht infrage, die logische Wahl wäre Khalisa, die Älteste, doch die Mutter entscheidet sich für Djamila. Warum Djamila und nicht ich, fragt Khalisa unter Tränen. Ich brauche dich hier, entgegnet die Mutter, ich brauche dich für Subaia, ich brauche dich, damit wir gemeinsam euren Vater wiederfinden. Aber ich will nicht hier bleiben, schluchzt Khalisa, ich will nicht enden wie Aziza. Hör auf mit solchen Dingen, entgegnet die Mutter, wir werden uns alle in Schweden wiedersehen, alle fünf werden wir bald dort sein. Doch Khalisa lässt sich nicht beruhigen. Ich bin die Älteste, ruft sie zornig. Und die Mutter weiß selbst, dass sie nicht die ganze Wahrheit sagt. Sie braucht Khalisa, ja, aber sie weiß auch, dass Djamila immer ihr Herzenskind war und sein wird, und dass, wenn der Zauberteppich nur einen Menschen forttragen kann, dieser eine Mensch Djamila sein soll.
    Und dann ist der Tag der Abreise gekommen, es ist ein kalter Februartag, am Abend soll es losgehen, das Wenige, was Djamila mitnehmen kann, steht bereit, alle sind aufgeregt, die Tränen fließen reichlich. Und dann beginnt es plötzlich zu schneien, weiße Kristalle tanzen vor dem Fenster. Es regnet, sagt Subaia. Khalisa blickt auf und tritt ans Fenster. Das ist kein Regen, das ist Schnee, korrigiert sie ihre kleine Schwester. Die drei Mädchen stehen dicht aneinandergedrängt und blicken staunend in den grauen Himmel, dann eilen sie hinaus, die Mutter kommt hinterher mit Jacken und Mützen. Sie sind nicht die Einzigen, aus vielen Häusern und Wohnungen strömen die Leute auf die Straße, Kinder aller Altersstufen, aber auch zahlreiche Erwachsene, und alle blicken zum Himmel auf, aus dem still und weich das gefrorene Wasser fällt. Jeder streckt die Arme aus, versucht die Flocken einzufangen, sie voller Staunen zu betrachten, bevor sie auf der Haut oder der Kleidung zerschmelzen, denn aus Bagdad kennen die meisten nur den Sommer. Und egal wie groß die Sorgenlast dem Einzelnen noch vor wenigen Minuten erschien, in diesem Augenblick ist sie aufgehoben, von den Schultern genommen, und selbst auf gramzerfurchten Gesichtern ist plötzlich ein kindliches Lächeln zu sehen. Djamilas Angst vor dem Abschied und der bevorstehenden Reise ist für kurze Zeit vergessen, Khalisas Enttäuschung über das Zurückbleiben fortgeblasen, die Müdigkeit und die Sorgen der Mutter sind weggeschmolzen, nur Subaias kindliches Gemüt kennt keine Sorgen, die es zu verdrängen gälte.
    Es schneit noch immer, als Djamila am Abend am vereinbarten Treffpunkt in das schwarze Auto steigt. Sie weint, durch einen Tränenschleier blickt sie zurück und winkt lange der Mutter und den

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