Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
und Nino von der Hopfenquelle. Das ist nicht gut, beklagt Murad den Sittenverfall, sein Talibanbart reicht an diesem christlichen Freudentag bis zum Boden und zittert vor Empörung. Wenn du nicht willst, du musst nicht trinken, macht die heilige Nino sich über ihn lustig und tritt ihm, ohne es zu bemerken, auf den Bart. Rotkäppchen ist zwar noch keine sechzehn, zweigt jedoch im Laufe des Abends so manchen Schluck aus der für Großmuttern bestimmten Flasche ab. Soll die Oma eben stattdessen Kuchen essen, denkt sich das schlimme Kind, Weihnachten kommt schließlich so schnell nicht wieder. Lasst uns froh und munter sein, aber nicht ins Bettchen spein, singe ich meinen Mitbewohnern ins Stammbuch, während ich brav meinen Orangensaft trinke.
Nach Sekt und kleinen Häppchen geht es zu Tisch. Das Refektorium ist nach Miras und Zakias Arbeit kaum wiederzuerkennen. Die zwei ohnehin langen Tische wurden zu festlichen Tafeln mit blütenweißen Tischtüchern verlängert, überall gibt es Tannenreisig, Strohsterne, anderen Schmuck und viele, viele Kerzen. Der Onkel klopft mit einem Löffel an sein Glas, ich fürchte schon, er will eine Rede halten, hört, hört, doch er verkündet nur, dass jeder sich hinsetzen möge, wo er wolle, er erklärt das Buffet für eröffnet und gibt den Löffel wieder ab. Alles geht also auf die Jagd nach Essbarem und auf die Suche nach einem Ort, um die erlegte Beute in Ruhe zu verzehren. Murad hätte mir beinahe den Platz neben Isabel weggeschnappt, doch nicht mit mir, Herr Magomazov, mit mir nicht! Und so sitze ich denn zur Rechten meiner Göttin, Kerzenlicht rötet ihr die Wangen, aus ihren Augen blitzt es mit tausend Feuern, und ich hänge an den Lippen, den rosigen und harre der Worte, die sie gebären. Sie erzählt von ihrer Kindheit, ihrer Jugend, erzählt von Reisen, von Städten auf verschiedenen Kontinenten, von Singapur, São Paulo, Banjul, Berlin, Städte, in denen ihr Vater als Diplomat oder Geschäftsmann tätig war und sie selbst zur Schule ging, heranwuchs, Freunde traf, erste Lieben erlebte. Und wie bist du nach Wien gekommen, fragt des Onkels Gemahlin, sitzend zur Linken der Göttin, auch mit deinen Eltern? Das Schicksal hat sie nach Wien geführt, komme ich Isabel zuvor, es hat sie zur rechten Zeit an den rechten Ort gebracht, in meine Arme nämlich. Die Onkelin lacht mit Petersilienzähnen. Du musst Ali sein, sagt sie, Odo hat mir von dir erzählt. Isabel setzt ein mildes Lächeln auf und schweigt, dann fühlt sie sich aber doch bemüßigt, der Tante eine andere Version aufzutischen, wie sie ja überhaupt schon die ganze Zeit so tut, als wendete sie sich an sie, wo sie doch in Wahrheit für mich und für niemand anderen singt und spricht und ist. Die Ehe ihrer Eltern sei vor ein paar Jahren auseinandergebrochen, ihr Vater blieb auf seinem Botschafterposten in Singapur, sie selbst kehrte mit ihrer Mutter nach Deutschland zurück, nach zwei Jahren in Berlin kam sie dann zum Studieren nach Wien, wo sie schon als Jugendliche gelebt und sich wohlgefühlt hatte. Und, wirst du hierbleiben, fragt die Tante. Natürlich wird sie bleiben, sie wird nie wieder von meiner Seite weichen, antworte ich für Isabel, doch Isabel selbst zuckt mit den Schultern. Ich weiß es nicht, bis jetzt fühl’ ich mich wohl – aber ich bin nun mal ’ne Zigeunerin … Ach, Carmen, ich bin’s, dein José, o Esmeralda, lass mich dir Phoebus und Quasimodo zugleich sein! Doch ich habe keine Zeit, mich voll und ganz meiner blonden Zigeunerdiplomatentochter zu widmen, denn die Glocken rufen uns. Es sind nicht jene von Notre-Dame, nein, es ist Mira, die uns mit hellem Geläute zur Bescherung ruft, Jingle bells, jingle bells, jingle all the way, und wir folgen ihr, wenn auch nicht in a one-horse open sleigh, ins Wohnzimmer zur Bescherung.
Manche meiner Genossinnen und Genossen haben bereits ein oder zwei Weihnachtsfeste in Österreich hinter sich, für sie bietet der heutige Abend also wenig Neues; ich selbst habe ohnehin schon so ziemlich alles erlebt. Für die meisten ist es aber doch nox prima und nach Jahren der Entbehrung ein wahrhaftes Weihnachtswunder. Die Überraschung ist groß, als sie des stattlichen, festlich geschmückten Baumes in der guten Stube ansichtig werden. Mira und Zakia haben ihn mit selbst gebastelten Strohsternen, Äpfeln, Süßigkeiten in rotem Raschelpapier und honigduftenden Kerzen geschmückt, unter dem Baum liegen große und kleine Päckchen in den verschiedensten Farben. Augen
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