Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
weiten sich, füllen sich mit Tränen, in den Tränen spiegelt sich das Licht der Kerzen, und als wir dann unter Tonys kompetenter Leitung unsere einstudierten Weihnachtslieder zum Allerbesten geben, werden reihum die Taschentücher gezückt.
Mit neugierigen, ungeduldigen, nervösen Fingern geht es dann ans Ausziehen der Geschenke, zum Vorschein kommt, was die Betreuerinnen und Betreuer für ihre jeweiligen Schützlinge, die Schützlinge für ihre Betreuerinnen und Betreuer, die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner für ihre Mitbewohner und Mitbewohnerinnen gebastelt, gemalt, gebacken, gekocht, gekauft oder gestohlen haben: Haluk schenkt Chefkoch Liu ein neues Keramikmesser, weil jenes vom letzten Weihnachtsfest zerbrochen ist. Amal, die größte Lang- und Verschläferin des Hauses, bekommt von Tony einen Wecker, sie grinst und versteht den Wink mit dem Zaunpfahl. Oma hat für alle Heiligenbildchen besorgt und diese in selbst gebastelte und individuell bemalte Weihnachtskarten eingeklebt, für Zakia hat sie gleich einen ganzen Kalender zusammengestellt. Kamal, das gute Kamel, wer hätte das gedacht, schenkt allen Frauen und Mädchen eine rote Rose, er muss den Großteil seines Dezember-Taschengeldes dafür ausgegeben haben, und ich bin gerührt, weil Mira einen überdimensionalen Mohr im Hemd für mich gebacken hat. Ich habe für jeden und jede in unserer Runde ein Gedicht in der Tradition japanischer Haikus geschrieben, natürlich liefere ich gleich die Simultanübersetzung in die jeweilige Muttersprache dazu. Deine Neffen und Nichten / Sie strömen an dir vorbei / Wie der Fluss an seinem Ufer, dichte ich für den Onkel. Schutz bietest du / Und brauchst ihn doch selber / Vor den Geistern vergangener Zeiten, so schreibe ich für Mira. Feuer im Haar und im Herzen / Wirst du alle besiegen / Außer dich selbst, besinge ich Nino. So viel möchtest du geben / Doch vergib nicht / Dich selbst, lautet mein besorgter Beitrag für Zakia. Verletzt, aber nicht gebrochen / Beschenkst du alle / Mit deinem tapferen Lächeln, bestärke ich Nicoleta. Ich bekomme viel Applaus, aber auch so manchen ernsten, nachdenklichen oder gerührten Blick. Odo hat mir gar nicht erzählt, dass du auch ein Dichter bist, gratuliert mir die Onkelin. Von Isabel kommt schüchternes, ein wenig unsicheres Lob, für Isabel, die es doch am allermeisten verdiente, habe ich kein Gedicht geschrieben, für sie habe ich nämlich ein ganz besonderes Geschenk vorbereitet, doch mit dessen Überreichung lasse ich mir noch ein wenig Zeit.
Wir haben eine Überraschung für euch, verkündet der Onkel dann, es gibt noch ein Geschenk für alle. Er führt uns auf den Gang, wir trotten brav hinterdrein, er sperrt die Tür zu einem Raum auf, der erst bei den Bauarbeiten dem verschwenderisch breiten Gang abgetrotzt wurde. Noch steht er leer bis auf ein großes, in buntes Geschenkpapier eingeschlagenes Etwas. Nach und nach sind alle in den Raum getreten, das Etwas wird umrundet. Na, will niemand das Geschenk auspacken, spornt Tony uns an. Djamila und Nicoleta und Kamal sind die Mutigsten oder die Neugierigsten, schließlich entpuppt sich das Etwas als Tischfußballtisch. Der ist von allen für alle, sagt der Onkel feierlich. Es gibt Jubel von den meisten, Enttäuschung bei einigen wenigen, Ratlosigkeit bei anderen. Was ist das, fragt Oma leise, und ich erkläre es ihr, während zahlreiche Hände helfen, das Geschenk ganz auszupacken.
Ich blicke in die Runde, als wir wieder beim Essen sitzen. Zu meiner Linken unterhält sich Isabel, diesmal mit Haluks Frau Barbara, rechts von mir ist Djamila ins Gespräch mit unserem Zivildiener vertieft. Auch die meisten anderen sind in mehr oder weniger angeregte Unterhaltungen verstrickt, wenn sie auch manchmal aus sprachlichen Gründen ins Stocken geraten mögen. Die Atmosphäre ist gelöst und entspannt, jeder scheint es an diesem Abend geschafft zu haben, die Sorgen abzuschütteln oder im Spind einzusperren.
Es wäre schön, könnte ich dieses Bild einfrieren und die Szene an dieser Stelle anhalten, doch ich muss nun einmal Zeugnis ablegen, ob mir das zu Berichtende Freude bereitet oder nicht. Von diesem Moment an geht es nämlich mit der Weihnachtsfeier steil bergab. Als ich mich innerlich gerade darauf vorbereite, Isabel mein Geschenk zu überreichen, bricht Oma plötzlich in lautes Schluchzen aus. Zakia, die Unermüdliche, ist gleich zur Stelle, zuerst denke ich noch, es handelt sich um Glückstränen, wie sie auch zuvor schon bei der
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