Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Schwestern, dann dreht sie sich nach vorne. Eine Weile betrachtet sie die Flocken, die wild durchs Scheinwerferlicht wirbeln, bald schläft sie ein und träumt von ihrem Vater, der sich durch das Schneegestöber kämpft. Djamila und die Schwestern und die Mutter rufen ihm zu, doch er sieht und hört sie nicht. Er scheint nur ein paar Meter entfernt zu sein, doch je mehr sie sich ihm nähern, desto mehr verschwindet er. Dann sitzt Djamila in einem Auto, rundherum versinkt alles im Schnee. Sie hat Angst vor den Schneemassen, sie hat Angst vor dem Fahrer, dessen Gesicht sie nicht sehen kann, erst als er sich umdreht, erkennt sie erleichtert den Vater. Wohin fahren wir, fragt sie. Wir fahren nach Hause, antwortet er. Wo sind die anderen, Mama, Khalisa, Subaia? Wir fahren nach Hause, wiederholt er mit seltsam kalter Stimme, da gibt es keinen Platz für die anderen.
Als Djamila aufwacht, schaut sie verstohlen nach vorne, auf ein Wunder hoffend sucht sie das Gesicht des Vaters in der Dunkelheit, doch das Wunder bleibt aus. Schlafend und träumend gelangt Djamila nach Europa, der Zauberteppich trägt sie fort, doch unterwegs verliert er seine Wirkung, bringt sie nicht bis Södertälje, sondern nur bis Wien. Es beginnt gerade zu schneien, als sie in Wien ankommt, sie fühlt die Schneeflocken im Gesicht und auf den Händen, sie streckt die Zunge heraus, sie kennt den Geschmack schon, sie verbindet damit Abschied, aber auch Heimat, es liegen darin die Umarmung der Mutter, das sorglose Lachen Subaias, die Tränen Khalisas und die Hoffnung, dass der Vater bald aus dem Schneegestöber herausfinden wird.
Der Tag der Tage, endlich bricht er an. Bisher, so heißt es, wurde das Weihnachtsfest im Leo immer am 23. Dezember gefeiert, damit unsere Hirtinnen und Hirten den Tag darauf zu Hause bei den eigenen Schäfchen verbringen konnten. In diesem Jahr hat der Oberhirte vorgeschlagen, das Fest am 24. zu feiern, jeder solle doch Partner, Kinder, Omas, Opas, Freunde, Wellensittiche und Meerschweinchen mitbringen. Zakia war natürlich sofort dafür, Hans und Tony stimmten anfangs dagegen, sie wollten Berufliches und Privates lieber trennen, ließen sich aber schließlich überreden. Und so ist also der 24. Dezember für uns alle ein Tag der fieberhaften Vorbereitungen, denn insgesamt wollen fast vierzig Mäuler gestopft sein.
Die Einkäufe für la grande bouffe hat Hans mit einigen von uns schon am Tag davor erledigt, vier Karpfen wurden geangelt, drei Gänsen der Hals umgedreht, dazu noch die Ingredienzien für die verschiedensten afrikanischen und asiatischen Gerichte besorgt. Am Morgen des 24. beginnt nun das große Geschneide und Gewürze und Gerühre: Der Onkel geht den Karpfen an den Schuppenkragen, Hans hat mit den Gänsen ein Hühnchen zu rupfen, Meister Liu richtet ein großes Gemüsemassaker an, auch Tony und Haluk mischen mit. Wir anderen verrichten die zahlreichen niederen Dienste, wieder andere schmücken einstweilen mit Mira und Zakia das Refektorium für das Weihnachtsgelage, während an der Wohnzimmertür ein großes Betreten-verboten-Schild prangt.
Weihnachtston, Weihnachtsbaum, Weihnachtsduft in jedem Raum, besinge ich die Gänseschar, Freue dich, o Christenheit, schmettere ich in die Küchenrunde. Ich bin keine Christ, murrt Murad, für Muslim gibt kein Weihnachten. Mit sichtlichem Widerwillen führt Mr. Taliban die Tätigkeiten aus, die ihm unsere Betreuer auftragen. Ich bin auch Moslem, kontert Djamila, die schon ein Weihnachtsfest in Österreich erlebt hat, aber Weihnachten ist schön. Tony meint, dass auch viele Nicht-Christen Weihnachten feierten und das Fest unabhängig vom religiösen Ursprung ein wichtiger Bestandteil der westlichen Kultur sei. Und außerdem isses ’ne schöne Gelegenheit, so der Onkel, gemeinsam ’n schönes Fest zu feiern.
Und dann ist es so weit, nach und nach trudeln die Gäste ein, Nicoleta und ich sind das Begrüßungskomitee. Zur Feier des Tages gibt es sogar Alkohol, wenn auch nur für jene, die das sechzehnte Jahr schon überschritten haben, und auch für sie nur in Maßen, nicht in Massen. Adolphe ist glücklich, endlich darf er, und das noch dazu ganz offiziell und ohne das eigene Taschengeld opfern zu müssen. Doch Orthografie und Grammatik sind seine Stärken nicht, die Maß oder das Maß, wer soll sich da auskennen, wenn Worte mit zweierlei Maß gemessen werden, und obwohl er sich Mühe gibt, verwechselt er Maß und Masse. Und macht, dass ihr wegkommt, verscheucht der Onkel ihn
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