Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
liegt Unruhe. Ich stehe auf, öffne die Tür zum Gang, auf dem Weg zum Bad begegnet mir der Onkel, in Straßenkleidung und in sichtlicher Eile. Und im selben Augenblick wird mir klar, dass ich nicht geträumt habe.
Ich kehre um und folge dem Onkel. Vor der Tür zu Lius Zimmer steht der jüngere der beiden Polizisten, Kamal und Djamila versuchen, neugierig und ängstlich zugleich, an ihm vorbei einen Blick auf Liu zu erhaschen. Geht bitte auf eure Zimmer zurück, wendet sich der Onkel an die beiden. Sie machen zwar Platz, um den Onkel durchzulassen, aber keine Anstalten, ihren Logenplatz aufzugeben. Ich geselle mich zu ihnen, um diesen schlechten Traum auch im Wachen weiterverfolgen zu können.
Liu ist gerade dabei, seine sieben oder acht oder neun Sachen einzupacken, Haluk, Tomo und Adolphe, die beiden Letzteren im Pyjama, helfen ihm dabei. Was soll das, wendet sich der Oheim an den älteren Polizisten. Wir haben einen gültigen Schubhaftbefehl, hier, bitte sehr. Der Onkel wirft einen flüchtigen Blick auf das Papier, das ihm der Beamte unter die Nase hält. Das darf doch nicht wahr sein, empört er sich genauso wie vor ihm Haluk, einfach in ein laufendes Verfahren einzugreifen, und das noch dazu bei einem Minderjährigen! Der Beamte zuckt mit den Schultern. Erklären Sie das bitte nicht mir, sondern meinen Vorgesetzten, lässt er den Angriff an seiner Uniform abprallen, ich führe nur Anweisungen und Befehle aus. Der Onkel murmelt irgendetwas, ich verstehe nur das Wort Nazis, er schimpft noch weiter vor sich hin, doch er weiß genauso wie Haluk, dass er die Beamten nicht daran hindern kann, Liu mitzunehmen. Du kommst zurück, sagt Tomo aufmunternd zu ihm, als er schließlich von dem Polizisten aus dem Zimmer eskortiert wird, Adolphe klopft ihm auf die Schulter, ich winke wort- und sprach- und fassungslos, Liu nickt und verzieht die Lippen zu einem tapferen Grinsen. Nach einem kurzen Zwischenstopp im Büro wird er dann zum Lift geführt und verschwindet mit den beiden Beamten in der Tiefe, fährt hinab in das Reich des Todes.
Zwar schleppen sich schwarze, weiße und gelbe Körper wie üblich in diesen oder jenen Kurs und erfüllen ihre Anwesenheitspflicht, doch der Geist ist abwesend. Jeder ist in Gedanken bei Liu, jeder zittert mit ihm und hat Angst davor, selbst als Nächster abgeholt zu werden. Der Onkel und die Schöne Helena rufen für den Nachmittag eine Krisensitzung aller Betreuer ein, man debattiert, man spekuliert, man telefoniert mit der Fremdenpolizei, mit Rechtsanwälten, mit den Asylbehörden, man empört sich über die neuen Gesetze, Liu sitzt einstweilen mit gestreiften Kleidern und Ketten an den Füßen zwischen Raubmördern und Kinderschändern. Am nächsten Tag ist die Polizei erneut im Haus, wenn auch nicht bei uns im Leo, sondern unten bei den Erwachsenen. Diesmal trifft es Gülertan Dolas, der ja schon vor Weihnachten einen negativen Bescheid erhalten hat. Wieder schlagen die Beamten im Morgengrauen zu, reißen einen viereinhalbfachen Vater fort von seinen Kindern, Mutter Dolas ist gar nicht da, sie muss früh aufbrechen an den Tagen, an denen sie zur Arbeit geht.
Rein äußerlich betrachtet geht das Leben im Haus seinen gewohnten Gang, the show must go on, doch in Wahrheit ist nichts mehr, wie es war. Auch bisher konnte jederzeit ein negativer Bescheid ins Haus flattern, auch bisher musste man damit rechnen, dass der Aufenthalt in diesem Haus, in diesem Land irgendwann zu Ende gehen würde, doch es ließ sich leben mit diesem Irgendwann, irgendwie gab es das Gefühl, dass unsere Bewacher gleichzeitig unsere Beschützer sein und das Ärgste zu verhindern wissen würden. Der vierte Stock wurde bisher von unangekündigten Besuchen der Fremdenpolizei verschont, er war tatsächlich eine Art Leo, ein Refugium, in dem man zumindest vorübergehend sicher war, in dem man verschnaufen und zu sich kommen konnte, bevor man sich wieder aufs Spielfeld wagte. Die Abholung Lius zeigt nun, dass dieses Leo nicht mehr respektiert wird, Liu weg, Leo weg, dass die Spielregeln missachtet oder vielmehr ohne gegenseitiges Übereinkommen geändert wurden. Und sie zeigt, dass unsere Bewacher ihrer Beschützerrolle nicht gerecht werden können oder – wie Adolphe mutmaßt – wollen. Ist egal für die, ob wir kriegen Asyl oder nicht, meint er beim Mittagessen, und einige pflichten ihm bei. Ich trete zur Verteidigung unserer Betreuer an, natürlich habe ich Djamila und Nicoleta und andere treue Seelen auf meiner
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