Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Seite, doch das Vertrauen zu Onkel & Co., das bei einigen ohnehin nur sehr schwach ausgeprägt war, ist dahin oder zumindest ernsthaft angekratzt.
Trotzdem, ein Rest dieses Vertrauens ist bei allen da, das Vertrauen darauf, dass unser Betreuerteam, wenn es schon nicht das Schlimmste – die Schubhaft –, dann doch das Allerschlimmste – die Abschiebung – verhindern würde. Doch selbst die treuesten Seelen kommen kurz darauf ins Wanken. Sechs Tage sind seit Lius Abholung vergangen, sechs Tage, in denen vonseiten unserer Onkel und Tanten nichts unversucht blieb, ihn aus der Schubhaft zu befreien. Und an ebendiesem sechsten Tag wird Liu am Nachmittag zum Flughafen gebracht, auf dem Rollfeld steht die Fremdenpolizeikapelle und bläst dem Schübling zum Abschied gehörig den Marsch, er wird ins Flugzeug eskortiert, und obwohl ich nicht dabei bin, sehe ich deutlich die bösen, mitleidigen oder einfach nur gleichgültigen Blicke der anderen Passagiere. Ich sehe einen jungen Mann, der auf die Polizisten einredet, einspricht, Einspruch erhebt bei einer Flugbegleiterin, der vergeblich zum Piloten vorzudringen versucht: Haben Sie denn überhaupt kein Gewissen, fragt er die Beamten und die Flugbegleiterinnen. Die Kapelle unter der Leitung der Abschiebeministerin spielt Freut euch des Lebens, ich sehe Liu einen letzten Fluchtversuch unternehmen, doch ohne Erfolg, Freut euch vergebens. Und als die Türen geschlossen werden, spielt die Musi Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus, das Flugzeug setzt sich in Bewegung, die Ministerin winkt Liu freundlich hinterher, und alles ist guter Laune, cause they do have a wooden heart, o yeah! Doch es ist ja ohnehin alles nur ein Spiel, Mensch ärgere dich nicht darüber, wer Pech hat, der fliegt eben raus aus Österreich. Nur einer kann bei der Reise nach Wien gewinnen, man muss schnell sein und braucht Glück und auch ein bisschen Ellbogen, die anderen bleiben auf der Strecke, es gibt einfach nicht genug Stühle in der Welt der Reichen, das Boot, wir bedauern es sehr, ist leider schon voll. Auch Völkerball ist übrigens ein lustiges Spiel, bei der hier gespielten Variante wird man nicht abgeschossen, sondern abgeschoben, auch da gibt es nur einen Gewinner, das ist ja der Sinn des Spiels, auszusieben, die Spreu vom Weizen zu trennen, die anderen, sie fallen, sie fallen durch den Rost. Das soll man nicht sagen, sagt man mir, das sei politisch nicht korrekt, klopft man mir auf die Finger, doch ich kann mich nicht um alles kümmern.
Wir haben eine neue Mitbewohnerin, und sie heißt Angst. Sie ist eingezogen in fünf Stockwerken, hat sich breitgemacht in allen Räumen, sie lauert hinter jeder Ecke und ist stets bereit, ihre Mitbewohner aus dem Hinterhalt anzufallen. Oma, die erst vor Kurzem gelernt hat, ihre Angst vor der Dunkelheit zu überwinden, schläft nun wieder bei eingeschalteter Nachttischlampe, sehr zum Ärger von Amal. Amal ist noch reizbarer als sonst und explodiert beim kleinsten Anlass, zwischen den Explosionen ist sie dafür umso apathischer. Yaya, dessen Zustand sich in letzter Zeit deutlich gebessert hat, verfällt wieder in die übliche Starre, die Hände umklammern das Amulett und versuchen damit alles abzuwehren, was von außen kommt, egal, ob gut oder böse. Selbst Nino, die sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lässt, scheint unrund zu laufen, vielleicht liegt das in ihrem Fall aber daran, dass die Beziehung zu Nahum ihre Halbwertszeit längst überschritten hat.
Die Fremdenpolizisten sind zwar mit Liu in der Tiefe verschwunden und seither im Leo nicht wieder aufgetaucht, doch in Wahrheit sind sie immer noch im Haus. Sie haben sich sogar vermehrt, sie sitzen und stehen und lehnen an jeder Ecke, belauschen jedes Gespräch, sind bei allen Mahlzeiten anwesend, selbst in der Dusche und auf der Toilette sind sie dabei, nachts hocken sie wie Hunde oder Katzen auf den Beinen der Schlafenden und schleichen sich in deren Träume.
Die Angst, sie nagt mit kleinen spitzen Zähnen am Vertrauen und nährt gleichzeitig das Misstrauen, Misstrauen gegenüber dem Betreuerteam, aber auch gegenüber den Mitbewohnern, denn die wissen schließlich so manches, was die Asylbehörden lieber nicht wissen sollten. Die Angst, sie lähmt, und so sitzt mehr als ein Dutzend jugendlicher Karnickel herum und wartet auf den Biss der Schlange. Und weil auch unsere Wärter gelähmt scheinen, wenn auch vermutlich nicht aus Angst, sondern aus Ohnmacht, stehe ich eines Tages auf. So kann’s
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