Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
meinen Genossinnen und Genossen ins Gewissen zu reden, doch da kommen Zakia und Hans, und ich verschiebe die Sache auf einen späteren Zeitpunkt.
Die Einzige, die mich nicht wie einen Kranken behandelt, ist Dunja. Morgen Nachmittag ist Geigenstunde, sagt sie, als sie vom Mittagstisch aufsteht, um vier Uhr. Und schon ist sie fort, ohne meine Antwort abzuwarten, doch es war ja ohnehin keine Frage, sondern ein Befehl. Punkt vier Uhr klopfe ich also am nächsten Tag brav an Dunjas Zimmertür, warte eine Viertelstunde, bis sie bereit ist, trage ihren Geigenkasten hinüber in den Unterrichtsraum und entschuldige mich bei Paul für die Verspätung. Dunja spielt den ersten Satz aus Tschaikowskys Violinkonzert, und ich muss zugeben, sie hat Talent. Wunderbar, lobt auch Paul, doch dann wagt er es, ein paar Details zu kritisieren, schlägt da einen anderen Strich oder Fingersatz, dort ein crescendo oder diminuendo vor, fordert mehr Zurückhaltung an der einen und sorgfältigere Intonation an der anderen Stelle, und ich übersetze, was ich davon für angebracht halte. Sag’ ihm, er hat von Tschaikowsky keine Ahnung, lautet Dunjas Reaktion. Sie sagt, sie wird deine Anregungen für die nächste Stunde berücksichtigen, übersetze ich, und Paul nickt zufrieden.
Hat’s dir gefallen, frage ich nachher. Sie zuckt mit den Schultern. Mein Lehrer in Inguschetien war hundert Mal besser. Selbstverständlich, aber gibt es eigentlich irgendetwas, das dir hier gefällt? Sie überlegt nicht lange. Eigentlich nicht. Wieso gehst du dann nicht nach Tschetschenien zurück, frage ich und weiß schon, wie sie reagieren wird. Ich komme aus Inguschetien, protestiert Dunja auch prompt, ohne meine Frage zu beantworten.
Versteh’ uns nicht falsch, sagt Mira gerade, als ich meinen Beobachtungsposten einnehme, wir möchten dich sicher nicht zu einer Abtreibung überreden. Eine Abtreibung ist etwas sehr … Mira sucht nach dem richtigen Wort im Russischen … etwas sehr, sehr Trauriges, aber in manchen Fällen ist sie vielleicht trotzdem die bessere Lösung. Nino sitzt mit hängenden Schultern und gesenktem Blick in ihrem Sessel und schweigt. Es ist schon unter normalen Umständen sehr schwierig, in deinem Alter ein Kind großzuziehen, noch dazu ohne Vater, schaltet sich Hans ebenfalls auf Russisch ein, als Asylwerberin hast du’s aber doppelt schwer. Du kannst jeden Moment abgeschoben werden, was dann? Und wenn du Asyl bekommst, dann musst du arbeiten gehen, um dich und dein Kind durchzubringen. Wer kümmert sich dann um das Kind? Nino schweigt. Ich will keine Abtreibung, sagt sie dann. Hans ringt nach Worten und flüchtet sich ins Kärntnerische. Du kunntast jo dos Kind zur Wölt bringen und donn zur Adoption freigeben. Nino schüttelt langsam den Kopf. Wenn du willst, kann ich für dich einen Termin mit unserer Psychologin vereinbaren, bietet Mira an. So was brauch’ ich nicht, ich bin ja nicht krank im Kopf, lehnt Nino schroff ab. Hans und Mira müssen beide grinsen. Vielleicht kann sie dir trotzdem besser als wir beide helfen, eine Entscheidung zu treffen, meint Mira. Du host nur noch a Woch’n Zeit für die Entscheidung, glaubt Hans sie erinnern zu müssen, und prompt beginnt Nino zu heulen. Mira steht auf und streicht ihr sanft über die zerzausten Haare. Hans, sagt sie auf Deutsch, kann ich einen Augenblick alleine mit Nino sprechen?
Ich weiß nicht, ob es dir bei deiner Entscheidung helfen wird, aber ich möchte dir etwas erzählen, beginnt Mira, nachdem Hans das Zimmer verlassen hat, aber erzähl’ es bitte nicht weiter. Nino nickt. Ich hab’ auch eine ungeplante … eine ungewollte Schwangerschaft erlebt. Nino blickt auf, plötzlich aus ihrer Agonie gerissen. Wie alt warst du da, fragt sie. Ich war dreiundzwanzig, keine sechzehn, das macht natürlich einen Unterschied. Und? Wie hast du …? Mira lächelt. Du kennst meine Tochter. Alenka? Mira nickt. Ich hab’ nur eine, und dabei wird’s wohl auch bleiben. Was war mit dem Mann … dem Vater? Mira zögert, ihr Blick fällt zu Boden. Du musst es nicht erzählen, sagt Nino rasch. Mira schüttelt den Kopf. Es ist schon okay, sagt sie, es ist nur … ich hab’ ihn … ich hab’ ihn kaum gekannt.
Hört, hört! Bei der Einvernahme verwickelt sich die Antragstellerin Obranović, Mirela, laufend in Widersprüche. Zuerst erzählt sie ihrer Tochter, Obranović, Alena, jahrelang vom Vater, Obranović, Mladko, als Letzterer wider Erwarten plötzlich auftaucht, ist die Rede von zwei möglichen
Weitere Kostenlose Bücher