Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
kleine Bruder plötzlich weg. Ich hab’ tagelang geweint, schließt Nicoleta traurig und holt sich zum Trost einen Nachschlag aus dem Kochtopf. Nino schweigt, doch was soll eine werdende Mutter zu solchen Geschichten auch sagen! Erzähl’ etwas über deine Mutter, fordert Nicoleta sie schließlich auf. Was denn? Irgendetwas, was dir so einfällt. Nino überlegt nicht lange. Meine Mutter hat sich entweder betrunken oder mit Arschlöchern herumgetrieben, manchmal hat sie sich auch betrunken und mit Arschlöchern herumgetrieben, das ist alles, was mir zu ihr einfällt. So darf man nicht über seine Mutter sprechen, wendet Nicoleta bestürzt ein, dieselbe Nicoleta, deren Mutter sich ebenfalls im Alkohol ertränkte, dieselbe Nicoleta, die von ihrer Mutter im Stich gelassen wurde! Doch das weiß Nino nicht. Wenn es wahr ist, darf man das schon, beharrt sie. Aber es muss doch auch irgendetwas Schönes geben, das du mit deiner Mutter erlebt hast. Ich weiß nicht, meint Nino skeptisch. Irgendetwas Lustiges, fordert Nicoleta, und ich muss an ihre Zeit im Kinderheim denken, etwas Fröhliches, sagt sie, ich denke an ihre Erlebnisse in Serbien, etwas, wo du auf deine Mutter stolz warst. Nino scheint lange in ihren Erinnerungen kramen zu müssen, es fehlt ihr ganz offensichtlich Nicoletas Gabe, sich die schönen Erlebnisse einfach zu erfinden. Ich kann mich an Tage am Strand erinnern, in Sochumi, als ich noch klein war, erzählt sie schließlich zögernd, da war meine Mutter fröhlich. Auch bei meinen Großeltern konnte sie manchmal fröhlich sein, obwohl das nicht ihre Eltern waren, sondern die von meinem sogenannten Vater. Die hab’ ich sehr gemocht, sie wohnten in einer alten Villa mit Garten, das heißt, eigentlich lebten sie im Gartenhaus, die Villa gehörte einem reichen Georgier. Aber der Georgier musste dann flüchten, wegen der Russen, und meine Großeltern und die anderen Georgier auch. Und ihr … deine Eltern und du? Meine Mutter und ich sind geblieben, wir mussten nicht flüchten. Sie war Russin, ist Russin, was weiß ich. Und dein Vater? Den hab’ ich nie kennengelernt, der hat sich bald nach meiner Geburt verdrückt. Später sind wir dann auch weggegangen von Sochumi, zuerst nach Batumi, dann nach Tbilisi. Und warum bist du dann aus diesem … Bilisil nach Österreich geflüchtet? Ich hab’ ein paar Mal Flugblätter verteilt und war bei Demonstrationen dabei, gibt sich Rotkäppchen als mutige Revoluzzerin, deshalb war ich auch ein Mal im Gefängnis. Glaub’ ihr nicht, möchte ich Nicoleta laut zurufen, ich, Faruq, weiß, dass sie nicht die Wahrheit sagt! Doch ich schweige, um die beiden nicht auf mich aufmerksam zu machen, und Nicoleta glaubt ihr. Das ist mutig, sagt sie, das hätte ich mich nicht getraut. Und dann hört man das Kratzen von Metall auf Metall, Nicoleta scheint in den Kochtopf zu kriechen, um die allerletzten Reste des Mittagessens herauszuholen, und ich verlasse meinen Horchposten, um mir den Schlaf des Gerechten zu gönnen.
23
Am nächsten Tag, es ist Samstag, Sabbat, Tag des Saturn, überstürzen sich die Ereignisse, und jeder braucht mich, denn alles will berichtet und bezeugt sein: Gjergi stirbt, Mira macht Schluss mit Lukas, und Murads Mutter und Schwester kommen in Österreich an.
Beim Mittagessen kommt Haluk in die Küche. Murad, Telefon für dich, sagt er. Murad folgt ihm und seiner Rasierwasserwolke ins Büro, ein paar Minuten später kehrt er freudestrahlend zurück: Seiner Mutter und seiner Schwester, den einzigen Familienmitgliedern, die der unselige Krieg verschont hat, ist es tatsächlich gelungen, Tschetschenien zu verlassen, sie sind heil am Schwechater Flughafen angekommen. Man gratuliert ihm, man freut sich mit ihm, und doch fühle ich bei einigen wieder den Neid: Die Lippen, sie öffnen sich zwar zu einem Lächeln, doch die Augen tragen Halbtrauer, weil es fremdes und nicht eigenes Glück ist, das sie schauen.
Mira betritt die Küche, holt sich eine Portion Rindfleisch mit Spinat und setzt sich zu uns. Sie sieht müde aus, sie sieht blass aus, mir scheint, sie hat auch ein wenig abgenommen in letzter Zeit. Haluk kommt kurz danach und setzt sich neben Mira. Hast du schon gehört, fragt er leise, Gjergi ist gestorben, Gjergi Halimi. Mira lässt Gabel und Messer sinken, hört zu kauen auf, plötzlich rinnen Tränen über ihre Wangen. Haluk reagiert bestürzt. Ich hab’ nicht gewusst, dass … hast du ihn gut gekannt? Es ist nichts, sagt Mira und wischt sich mit dem
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