Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Friedhof zur Straßenbahn spazieren, zeigt er mir eine Liste mit den Namen von ungefähr dreißig Menschen, deren Leichen man in einem Massengrab gefunden und vor Kurzem identifiziert hat. Da, sagt er und deutet auf zwei Namen, Fatmire und Afërdita Halimi, das sind Gjergis Frau und Tochter. Gestern habe ich die Liste bekommen, gestern, vier Tage zu spät für Gjergi!
Zuerst stimme ich in seinen Klagegesang mit ein, aber je mehr ich in den folgenden Tagen darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass es keinen Grund zur Klage gibt: Gjergi hat davon gewusst, finde ich schließlich Trost für Egzon und mich selbst, er hat irgendwie gespürt, dass man die sterblichen Überreste seiner Frau und seiner Tochter endlich gefunden und identifiziert hat, dass man sie nun in Würde beisetzen wird, und deshalb hat auch er selbst Ruhe und Frieden gefunden. Vielleicht hast du recht, sagt Egzon und wirkt nicht mehr ganz so traurig.
Was Gjergi aber wahrscheinlich nicht wusste: dass am Tag nach seinem Begräbnis ein positiver Asylbescheid an ihn ergehen würde. Jetzt, da er in österreichischer Erde zur Ruhe gekommen ist, hat er die Erlaubnis, auf österreichischem Boden zu bleiben. Ein Happy End! Fast könnte man meinen, es stecke Absicht dahinter, vielleicht gibt es ja auch tatsächlich eine neue ministerielle Weisung: Ab sofort ist nur noch Toten Asylstatus zu gewähren, gezeichnet die Abschiebeministerin. Auf österreichischem Boden, so höre ich die Ministerin mit staatstragender Stimme sprechen, da ist das Boot leider schon voll, aber unter der Erde ist noch viel Platz, da machen wir den Asylwerbern ein großzügiges Angebot, und ich höre sie grölen, die Burschenschaftsschlägertruppen auf ihren Buden, Der Zentralfriedhof ist lustig, der Zentralfriedhof ist schön, denn da kann man Asylanten nun in Massengräbern seh’n, und die Schmisse, sie fliegen kreuz und quer und glatt und verkehrt.
Doch die Trauer über die Toten darf uns nicht den Blick auf die Lebenden verstellen. Djaafar ist zum Glück noch höchst lebendig, auch hat er sich keineswegs die gute Laune verderben lassen von der Tatsache, dass er nun als Illegaler leben muss. Wäre er nicht stumm, würde er bestimmt ein fröhliches Liedchen anstimmen, Ich bin schwerstens illegal und lebe jetzt in Lichtental, dort hat ihm nämlich ein guter Freund Platz gemacht, sie leben zu viert in einer feuchtfinsteren Ein-Zimmer-Wohnung, wenn auch Djaafar meist nur die Nächte dort verbringt. Tagsüber wohnt er in einem großen, blau gestrichenen Haus am Stadtrand mit vielen, vielen Zimmern, dort treffe ich ihn auch. Wo möchtest du sitzen, fragt er mich per Notizblock, in der Küche, im Wohnzimmer, im Esszimmer, im Arbeitszimmer? Wohnzimmer, sage ich. Dann drückt er mir eine Werbebroschüre in die Hand. Wie hast du’s lieber, ist darauf zu lesen: Ländlich-rustikal? Zeitlos-modern? Oder jugendlich-alternativ? Ich entscheide mich für zeitlos-modern, und Djaafar geleitet mich zielsicher zum passenden Wohnzimmer. Das Sofa, auf das ich mich setze, heißt Björn, Gestatten, Ali, stelle ich mich vor, bevor ich Björn meine Arschbacken ins Gesicht drücke, der Tisch, eine gläserne Schönheit, trägt den Namen Silja, ich deute eine Verbeugung an, und auch die Regale und Schränke ringsum und der Teppich unter unseren Füßen und die Lampe, die uns Erleuchtung spendet, wollen begrüßt sein, bevor ich mich Djaafar zuwenden kann.
Djaafar geht es gut, bis auf die Tatsache, dass er kein Geld, kein Essen und keine Zukunft in Österreich hat. Das macht nichts, schreibt er, das wird sich schon irgendwie lösen. Ich teile seinen Optimismus nicht ganz und versuche ihn zu überreden, die Flucht nach Belgien nicht auf die lange Bettbank zu schieben. Es gefällt mir hier, schreibt er und deutet mit dem Arm in die Wohnlandschaft ringsum. Aber wie lange geht das noch gut? Einen Monat? Zwei Monate? Djaafar zuckt mit den Schultern. Djaafar, versuche ich ihn aufzurütteln, wir haben dich nicht befreit, damit du gleich wieder in Schubhaft landest. Er schickt mir einen eigenartigen Blick wie damals im Krankenhaus, und wieder gibt es kein Wort des Dankes. Ich bin vorsichtig, versucht er mich zu beruhigen. Vorsichtig? Findest du es vorsichtig, dich den ganzen Tag hier aufzuhalten? Keine Angst, schreibt Djaafar, die sind sehr nett, ich bin fast jeden Tag hier. Ich gebe auf.
Wir wechseln ins Esszimmer, diesmal ist der Stil ländlich-rustikal, ich habe natürlich Essen für Djaafar mitgebracht, wir
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