Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
geordnete Bahnen zu lenken und umzuwandeln in einen breit dahinströmenden Erzählfluss. Dort, wo Nicoleta etwas auslässt, ergänze ich, denn jetzt, da sie zu erzählen begonnen hat, ist ihr die ganze Geschichte – und sie widerspricht natürlich in vielen Punkten der offiziellen, in den Akten verzeichneten – ohnehin deutlich am blässlichen Gesicht abzulesen.
Es stimmt, dass Nicoleta in Chisinau geboren wurde, dass sie in Tiraspol einen Großteil ihres Lebens verbrachte, dass ihre Mutter den Beruf der Krankenschwester ausübte. Was Nicoleta jedoch bisher verschwiegen hat: dass die Mutter durch eigene Schuld den Job, die Dienstwohnung und schließlich sich selbst im Alkohol verlor. Nicoleta ist zu diesem Zeitpunkt ungefähr fünf Jahre alt, der Vater ist längst nur noch eine blasse Erinnerung, die Mutter vernachlässigt sich selbst und ihre beiden Kinder mehr und mehr. Die Fürsorge tritt auf den Plan, schließlich werden Nicoleta und ihr Bruder in zwei verschiedene Heime gesteckt. Anfangs sehen sie sich einmal im Monat, dann wird der Bruder in ein anderes Heim verlegt, der Kontakt bricht ab. Die Mutter kommt zuerst noch in unregelmäßigen Abständen zu Besuch, dann hört Nicoleta auch von ihr nichts mehr. Die Versuche der Heimleitung und verschiedener staatlicher Stellen, sie aufzuspüren, schlagen fehl, irgendwann wird sie für tot erklärt.
Als reale Person verschwindet die Mutter aus Nicoletas Leben, als Geist, als Chimäre, als Wunschbild kehrt sie zurück. Meine Mutter macht dies, meine Mutter macht jenes, erzählt sie Kindern und Erziehern, und nach und nach erfindet sie sich die Mutter, die sie nie hatte, lebenslustig, liebevoll, fürsorglich, eine Mutter, die aus beruflichen Gründen vorübergehend nicht imstande ist, sich um ihre Kinder zu kümmern, die sie aber eines nicht allzu fernen Tages selbstverständlich wieder zu sich nehmen wird. Am Anfang glauben einige noch an Nicoletas Erzählungen, doch bald wird allen klar, dass die Mutter und auch der Bruder nur mehr in ihrer Fantasie existieren. Je skeptischer die anderen werden, desto mehr klammert sich Nicoleta an ihre Fantasiewelt. Irgendwann beginnt sie, sich selbst Briefe zu schicken und sie den anderen triumphierend als Lebenszeichen der Mutter zu präsentieren. Trotzdem wird sie bald als Spinnerin abgestempelt, als eine, die nicht ganz richtig im Kopf ist, sie wird gehänselt und gequält und gedemütigt und erniedrigt, meist aber einfach nur gemieden. Die Betreuer sind machtlos oder machen mit, und mehr als ein Mal denkt Nicoleta darüber nach, aus dem Heim zu flüchten.
Vor dem Heim lungern immer wieder Männer herum, sie sprechen die älteren Mädchen aus dem Haus an, sie bieten Arbeit, Arbeit als Kellnerin, als Reinigungskraft, als Au-pair- oder Zimmermädchen, Arbeit in Deutschland, Italien oder Spanien. Und manche Mädchen nehmen das Angebot an, man sieht sie nicht wieder, sie scheinen tatsächlich im Ausland gelandet zu sein, dürften wirklich Arbeit bekommen haben. Auch Nicoleta wird angesprochen, als sie fünfzehn ist, auch sie nimmt das Angebot an und verlässt eines Tages mit den wenigen Dingen, die sie besitzt, das Haus, das nie ein Zuhause war.
Zwei Wochen dauert es, bis alle Papiere besorgt, alle Formalitäten erledigt sind, zwei Wochen, die sie zusammen mit einem anderen Mädchen bei einer Frau verbringt, die wortreich die Segnungen des Westens und des Euros preist. Dann geht die Fahrt los, von Aufenthalten unterbrochen, dauert sie ungefähr eine Woche. Mit wechselnden Autos und Fahrern geht es über mehrere Grenzen hinweg, manche Fahrer sind schweigsam, manche gesprächig, einige nett, andere brutal, doch schließlich landen Nicoleta und Timea unbeschadet an ihrem Ziel, in Italien, wo sie als Kellnerinnen arbeiten sollen.
In dem Haus, in dem man die beiden unterbringt, gibt es tatsächlich ein Restaurant und eine Bar. Es ist ein zweistöckiges Gebäude an einer Ausfallstraße am Rand einer größeren Stadt. Es gibt ein paar Hotelzimmer, das Restaurant scheint gut zu gehen, die Bar noch besser, auf dem Parkplatz stehen nicht wenige teure Autos. Das kleine Dachzimmer, das man Nicoleta und Timea zuweist, ist schäbig, doch sie sind zufrieden und freuen sich auf ihr neues Leben in einem neuen Land.
Das neue Leben beginnt noch am selben Abend. Sie bekommen ihre Arbeitskleidung, die Stöckelschuhe, der Minirock und das glitzernde Oberteil kommen Nicoleta etwas seltsam vor, dann werden sie ins Büro gebracht, dort gibt es kurze
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