Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Lebensgeschichte. Nicoleta versteht nicht viel davon, doch sie ist glücklich. Kurz vor der österreichischen Grenze muss sie wieder in ihr Versteck. Beide haben Glück, die Kontrollen sind nicht besonders genau, und so erreicht Nicoleta Österreich.
Kurt wird noch oft von dem besonderen Geschenk sprechen, das er zu seinem dreiundvierzigsten Geburtstag bekommen hat, und er wird immer wieder von dieser Fahrt träumen. Auch Nicoleta träumt von Zeit zu Zeit davon, viel öfter jedoch von den Monaten, die der Flucht vorausgingen. Und nun, da ich Nicoletas Geschichte kenne, nehme ich auch ihre Träume zusammen mit jenen von Gjergi, Yaya, Mira und all den anderen mit in die Nacht, und sie durchdringen meine eigenen.
Ich sitze auf dem Affenbrotbaum hinter dem Haus. Es ist ein heißer, schwüler Nachmittag, über den Bergen im Westen hängen Wolken, sie kommen sicher bald zu uns, man kann den Regen schon riechen. Es ist still im Dorf, seltsam still, denn sogar die Zikaden und die Bienen und alle anderen Insekten sind verstummt, nur das Bellen eines Hundes ist zu hören. Ich weiß, was passieren wird, gleich werden die Soldaten kommen, gleich werden meine Mutter und meine Schwestern aufschreien, und ich weiß auch, dass ich nichts, gar nichts dagegen werde tun können. Es würde nichts helfen, jetzt schon ins Haus zu gehen und die beiden vorzuwarnen, sie zu verstecken, ich weiß, die Soldaten würden sie trotzdem finden. Ich warte daher, ich warte auf die Schreie, zwar kommen sie später, als ich glaube, aber sie kommen. Ich springe vom Baum und laufe zum Haus. Ich höre die Schreie aus der Küche, ich weiß zwar, was ich gleich sehen werde, wenn ich von außen hineinschaue, trotzdem kann ich nicht anders, als mich langsam und vorsichtig vor dem Fenster aufzurichten. Drinnen sehe ich meine Mutter und meine Schwestern, ich sehe die Soldaten, die ihnen Gewalt antun, ich sehe aber auch mich selbst, wie ich durch das Fenster spähe, dann sind plötzlich die Soldaten weg, ich könnte jetzt ins Haus gehen, doch ich hocke immer noch vor dem Fenster. Drinnen sind mein Onkel und meine Tante und einige Nachbarn, ich erkenne auch Yaya, Gjergi und Liu, auch Nicoleta ist da und blickt mich vorwurfsvoll an, die kleine Küche ist voller Menschen, alle reden durcheinander, meine Mutter fragt nach mir, ich will nicht, dass sie mich am Fenster sieht, sie soll nicht wissen, dass ich Zeuge war, sie ruft nach mir, immer wieder ruft sie – – – und ich wache auf und blicke verschlafen in Kamals Kamelaugen. Aufstehen, Ali, ruft er und rüttelt mich am Arm, neun Uhr ist.
16
Der Berufsschnupperkurs ist zu Ende, meine Aufmerksamkeit gilt wieder dem Haus und seinen Bewohnern, und es gibt, die Götter seien gepriesen, eine neue Frau in meinem Leben: Es ist belle, belle Isabel, und sie ist, ihr Göttinnen seid bedankt, ohne jegliches Gezweifel die schönste Frau auf diesem Planeten! Vor ein paar Tagen ist sie zum ersten Mal hier erschienen, ist mir zum ersten Mal erschienen, im Träumen oder im Wachen, ich könnt’ es nicht sagen, schwebenden Schrittes und wehenden Haares ist sie in mein Leben getreten und erfüllt es seither mit stillem Glanz. Offiziell ist sie hier, um Amal zwei Mal pro Woche Nachhilfe in Mathematik zu erteilen, tatsächlich kommt sie natürlich nur wegen mir ins Haus.
Schon beim ersten Mal, als ich sie mit Amal in einem der Kursräume sitzen sehe, stolpere ich beinahe über die Schwelle, geblendet nähere ich mich der strahlenden Göttin, abgeschirmten Auges und voll der Ehrfurcht. Sie spricht in Zahlen, sie singt sich mit Glockenstimme quer durchs Einmaleins, ein Mal eins ist zwei Mal drei, x ist vier und y zwei. Ich brauche auch Nachhilfe, sage ich, nachdem ich drei Minuten oder drei Jahre andächtig gelauscht, sie schenkt mir ein unsicheres und doch so einladendes Lächeln. Gerne, antwortet sie mir, aber wir sollten zuerst mal Tony fragen. Das mach’ ich schon, das mach’ ich schon, Frau Professor, versichere ich, und so schnell wie das himmlische Kind sause ich davon, sause kreuz und quer und auf und ab, bis ich Herrn Azibaola endlich gefunden habe. Hilfe, stoße ich atemlos hervor, und Tony blickt überrascht von seiner Arbeit auf, nicht nur Amal, auch ich brauche Nachhilfe, Abhilfe, Beihilfe, brauche Rettung vor der mathematischen Ignoranz! Da musst du mit Mira sprechen, gibt er mir zur Antwort und mustert mich mit verwundertem Blick. Mira ist nicht da, ich weiß, dass sie erst in zwei Tagen ihren nächsten Dienst
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